In Bremen beschäftigt sich ein Fachkongress mit der Frage, wie die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung zu mehr Bürgerservice führen könnte. Anderenorts wurde diese Frage längst beantwortet.
Nicht weniger als 360 IT-Experten aus Bund, Ländern und Kommunen diskutieren derzeit auf einem Fachkongress in Bremen darüber, wie die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung zu besserem Bürgerservice führen kann. Unter dieser Fragestellung müsste die Republik Estland den Kongressteilnehmern wie das Schlaraffenland vorkommen. Denn in dem kleinen baltischen Staat funktioniert in Sachen digitaler Bürgerservice vieles, wovon in Bremen nur geträumt wird. Und das zum Teil schon seit Jahrzehnten.
Steuererklärungen? Werden in Estland zu 95 Prozent elektronisch abgegeben. Die Ausstattung der Schulen mit Kommunikationstechnik? Zu 100 Prozent umgesetzt. Das Gesundheitswesen? 2007 digitalisiert. Leistungsanträge, Einwohnermelderegister, Kfz-Stelle, Gewerbeanmeldung... alles funktioniert auf elektronischem Wege.
Unkompliziert, schnell und vor allem nutzerorientiert, sagt Til Assmann, Honorarkonsul Estlands in Bremen. Die Orientierung an den Bürgerinteressen stehe bei der Digitalisierung stets an erster Stelle. „Was hilft den Bürgern? Nicht: Was braucht die Behörde?“
Auch beim Fachkongress in Bremen geht es ausdrücklich um besseren Bürgerservice. Doch schon im Titel der zweitägigen Veranstaltung ist von den „guten Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten“ die Rede. Und eine Kernfrage der Tagung lautet: „Welche Arbeitserleichterungen ergeben sich für die Beschäftigten?“
Zweifel an fortschrittlicher Rolle Bremens
Finanzsenatorin Karoline Linnert (Grüne), in deren Ressort die Digitalisierung der Verwaltung fällt, sieht Bremen bei diesem Thema gut aufgestellt. Bremen spiele hier eine fortschrittliche und treibende Rolle, erklärte sie in einem Interview mit dem WESER-KURIER. Til Assmann hat da so seine Zweifel. Der Geschäftsmann zückt ein Schreiben des Statistischen Landesamtes vom Februar dieses Jahres.
Eine Erhebung zur Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien. Nichts gegen diese Erhebung, so Assmann. „Aber die ersten beiden Fragen lauten, ob in meiner Firma Computer und Smartphones genutzt werden, und ob wir einen Zugang zum Internet haben... Im Jahr 2017?“
Aber nicht nur die öffentliche Verwaltung in Bremen käme oft wenig zeitgemäß daher. Von seiner Bank habe er kürzlich per Post einen „Zwangsauszug“ für sein Geschäftsgirokonto zugeschickt bekommen. Weil er seine elektronischen Kontoauszüge längere Zeit nicht abgerufen hatte. Oder seine Krankenkasse: Die habe ihn im vergangenen Monat – ebenfalls auf Papier über den Postweg – um eine Einverständniserklärung gebeten, um ihm künftig unverschlüsselte E-Mails zusenden zu können. Er solle das beigefügte Formular unterschreiben und zurücksenden. Gerne auch per Fax.
„X-Road“ in Estland
Dass all dies auch ganz anders geht, zeigt das Beispiel Estlands. Dort wurde 2001 die „X-Road“ gestartet. Ein Werkzeug im Internet, das verschiedene E-Service-Datenbanken im öffentlichen und privaten Sektor miteinander verbindet und die Interaktion dieser Datenbanken ermöglicht. Im Jahr darauf wurde landesweit eine elektronische ID-Card eingeführt.
Die Karte, optisch dem deutschen Personalausweis ähnlich, enthält die elektronische Signatur ihres Besitzers. „Über zwei PIN-Codes kann ich mich damit in die X-Road einloggen“, erklärt Assmann. „Anschließend kann ich unterschiedlichen Institutionen den Zugriff auf meine Daten erlauben. Und ich sehe, wer wann darauf zugegriffen hat, denn auch das geht nur mit einer ID-Karte.“
Die 2008 eingeführte elektronische Krankenakte verwalte zum Beispiel alle Patienteninformationen. Daten aus verschiedenen Quellen werden kombiniert, Testergebnisse online verfügbar gemacht und Ärzten der Zugriff ermöglicht. Immer vorausgesetzt, der Patient erlaubt dies. 2010 folgte die Einführung eines E-Rezept-Systems. Ärzte können Rezepte online verschreiben, der Patient geht mit seiner ID-Card zur Apotheke und erhält dort das verschriebene Medikament. Finnland und der Oman hätten das elektronische Gesundheitssystem bereits von Estland gekauft, mit Belgien und England gebe es Verhandlungen.
Digitale Gesellschaft in Estland
Ähnlich unkompliziert verliefen inzwischen die meisten Behördenangelegenheiten, sagt Assmann. Die Teilnahme an der digitalen Gesellschaft sei anfangs allerdings auch in Estland kein Selbstläufer gewesen. Aber es seien entsprechende Anreize geschaffen worden. „Steuerrückzahlungen garantiert innerhalb von vier Wochen“ habe es etwa 2000 bei der Einführung der elektronischen Steuererklärung geheißen.
Wie weit fortgeschritten die Digitalisierung in Estland inzwischen ist, zeigt auch das Beispiel des „E-School-Systems“. Alle Schüler können ihre Fortschritte online sehen, und Eltern haben einen 24-Stunden-Online-Zugang zu den Schulaktivitäten ihrer Kinder – von den Noten und Anwesenheitsdatensätzen bis hin zur aktuellen Hausaufgabe. Und Lehrer können mit demselben System Aufgaben und Informationen an Schüler oder Eltern senden.
Inzwischen gibt es Dutzende von staatlichen Dienstleistungen, die durch die X-Road verbunden sind. Ebenso eingebunden ist der private Sektor, wie etwa Energieversorger, Telefonanbieter oder Geldinstitute. Allen gemein ist, dass sie über eigene Sicherheitsserver mit der X-Road verbunden sind. Denn Datenschutz ist hoch angesiedelt in Estland, betont Assmann. „Dort garantiert das Grundgesetz die Sicherheit der Daten.“
Das Thema Digitalisierung werde in Estland gesamtheitlich gedacht, macht Assmann einen entscheidenden Unterschied zu Deutschland und Bremen aus. „Bei uns wird immer nur an einzelnen Stellschrauben gedreht. Mal hier, mal da ein bisschen was geändert.“ Zumindest hierin ist er sich mit Finanzsenatorin Linnert einig. Auch die beklagt, dass die digitale Umstellung in den Behörden oft nur Stückwerk bliebe. „Damit hat man zwar etwas digitalisiert, aber nicht wirklich etwas verändert.“