Für manche verkörpern sie den reinen Kommerz, anderen gelten sie als hohes Kulturgut. Volksfeste, wie der mittlerweile 984. Freimarkt und die vergleichsweise noch junge Münchner Wiesn können in jedem Fall eines für sich reklamieren: Sie haben Tradition. Und sie ziehen jedes Jahr Millionen von Besuchern an, die bekommen, was sie erwarten. Jedes Mal gibt es neue Fahrgeschäfte und Attraktionen, die noch schneller, größer, lauter oder bunter sind als im Jahr zuvor. Zugleich können sich die Besucher darauf verlassen, viel Bekanntes und Geliebtes wiederzuentdecken. Die Feste sind feste Größen.
Die meisten Besucher haben Erinnerungen an den Jahrmarkt, den Rummel, die Dult, den Wasen oder die Kirmes, die in ihrer Kindheit und Jugend wurzeln. Da hat jeder seine ganz persönlichen Erfahrungen. Existenzielle, wie sie eine Achterbahnfahrt im Magenumdrehen vermitteln kann. Oder herzergreifende und unvergessliche, wie frühe Rendezvous an Autoscootern oder wilden Mäusen. Und wo sonst gibt es Liebesäpfel und Eis wie Sahne . . . Wollte man ein Für und Wider der Volksfeste abwägen, dürfte es recht emotional werden.
Der nach eigenen Angaben mehr als 4000 Mitglieder große Deutsche Schaustellerbund (DSB) hat 2002 eine Marktstudie in Auftrag gegeben, der zufolge Fußball-Bundesligaspiele 9,3 Millionen Besucher hatten, Volksfeste hingegen 178 Millionen. Eindeutig, wem wirklich die Lebkuchenherzen zufliegen. Zehn Jahre später ergab die – bis heute neueste – Untersuchung des DSB zur wirtschaftlichen Bedeutung der Volksfeste in Deutschland, dass 9900 Märkte und rund 450 Weihnachtsmärkte 233 Millionen Besuche pro Jahr hatten. Bruttoumsatz insgesamt: 3,7 Milliarden Euro.
Vom Imbiss bis zum Karussell betrieben Schausteller etwa 11.000 Geschäfte mit 22.700 Beschäftigten. Diese Informationen sind zusammengetragen im digitalen historischen Kulturgut-Volksfest-Archiv. Demnach ist die Zahl der Volksfeste inzwischen auf etwa 9750 im Jahr gesunken.
Volksfeste ein wichtiger Teil von Kultur und Tradition
Zwischenzeitlich klagte die Branche, dass kleinere Feste es zunehmend schwer hätten, ihr Publikum zu finden. „Indoor-Aktivitäten“ seien beliebter geworden. Freizeitgestaltung verlagere sich in die heimische Wohnstube, die Leute gingen nicht mehr so oft aus dem Haus. Dabei hatte die jüngste DSB-Befragung ein Ergebnis gezeitigt, das Karussellbetreiber in Schwindel erregenden Freudentaumel versetzen dürfte: Mehr als 80 Prozent der Befragten hätten der Aussage zugestimmt, „dass Volksfeste ein wichtiger Teil von Kultur und Tradition sind“.
Deshalb hatten die organisierten Schausteller vor knapp fünf Jahren eine Bewerbung an die Unesco geschickt, doch der Wunsch nach „Anerkennung der gelebten Volksfestkultur in Deutschland“ als immaterielles Kulturerbe blieb unerfüllt. Die Begründung: Weder die Betreiber noch die Besucher seien in die Bewerbung einbezogen worden. Im öffentlichen Bewusstsein allerdings ist Jahrmärkten und Kirmessen der Kulturerbe-Rang nicht abzusprechen. Sie sind die Feste der Herzen und kämen auch ohne Titel aus. Die organisierten Schausteller jedenfalls halten, auch nach einer zweiten Abfuhr, an ihrem Ziel fest. Sie können sich eine erneute Bewerbung vorstellen.
Die Argumente-Sammlung der Branche ist umfangreich. Sie sieht sich bestärkt durch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das Volksfeste zu einem Teil der Daseinsvorsorge erklärt hat, die Städte und Gemeinde leisten müssen. „Schausteller entführen ihre Besucher in eine Traumwelt und leben den europäischen Gedanken der Völkerverständigung“ – sagen die Schausteller.
Das Bundesinnenministerium hatte früher die Befürchtung geäußert, die Anerkennung von Volksfesten als „deutsches Kulturgut“ könne Integrationsbemühungen entgegenstehen. „Der größte Integrationsfaktor ist das Volksfest“, konterten die DSB-Schausteller, die europaweit vernetzt sind und internationale Mitarbeiter beschäftigen. Und das dürfte als bewiesen gelten. Ob Jung oder Alt, mit großem oder kleinem Geldbeutel, die Märkte stehen jeder und jedem offen und haben allen etwas zu bieten, Herkunft egal.
Sogar die Bajuwarisierung der Volksfeste, deren Rasanz auf keine krachlederne Hirschhaut geht, verkraftet der altehrwürdige Freimarkt, geräuschlos. Ein weiterer Zacken in der bunten Kirmes-Krone. Das Münchner Oktoberfest kommt zwar immer noch ohne Shantyhütten aus, aber längst nicht mehr ohne Fischbrötchen.