Altstadt·Horn-Lehe. Er war einer der besten Freunde Heinrich Bölls und erhielt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Lew Kopelew galt bis zu seinem Tod 1997 als einer der wichtigsten Vermittler zwischen Russland und Deutschland. Doch bevor der Schriftsteller und Germanist all diesen Ruhm erlangte, hat er als Propaganda-Offizier für die Rote Armee gearbeitet. Daraus hat Kopelew nie ein Geheimnis gemacht. Jetzt, 75 Jahre nach dem Überfall von Hitlers Wehrmacht auf die Sowjetunion, sind Originaldokumente aus dieser Zeit im Haus der Wissenschaft zu sehen.
Mehr als drei Milliarden deutschsprachige Flugblätter haben die Sowjets zwischen 1941 und 1945 verteilt. Über Flugzeuge, Ballons oder mit Hilfe von sogenannten Agitationsgeschossen. Diese 44 Zentimeter langen Rohre sehen aus wie Raketen und werden mit drei Flugblättern befüllt abgeschossen. Als psychologische Waffe war und ist Propaganda damals wie heute ein wichtiges Element der Kriegsführung. Ihr Ziel: den Feind zum Aufgeben zu bewegen und das Vorgehen der eigenen Truppen als legitim darzustellen.
Kopelew, der über deutsche Kindermädchen früh mit der deutschen Kultur in Kontakt kam und die Sprache perfekt beherrschte, schrieb unter dem Pseudonym Fritz Bunkerhocker. Seine gereimten Zeilen sollte die Soldaten dazu bewegen, sich in sowjetische Gefangenschaft zu geben. Das Versprechen war: Wer sich stellt, sieht seine Familie wieder. Wer nicht aufgibt, wird ohnehin sterben. „Deutsche Soldaten! Der Winter naht, – Der letzte Winter für manchen Soldat‘... Zögert nicht lange, die Zeit tut Not – Gefangen, – gerettet! – ist das Gebot“ stand auf einem der Flugblätter geschrieben. Andere appellierten an das Gewissen von Soldaten mit Familie: „Denk' an deine Lieben!“
Auch mit Illustrationen arbeiteten die russischen Propaganda-Offiziere. Eine Zeichnung zeigt Hitler als Gorilla mit blutigen Zähnen und Klauen hinter Gitterstäben. Darauf befindet sich der Schriftzug „Gorilla Adolf. Vorsicht! Tollwütig!“ sowie „Hinter Gittern. Da gehört er hin, da kommt er hin.“ Handschriftlich vermerkt ist oben „Feindpropaganda“. Diesen Vermerk bekamen die Blätter, wenn die Wehrmachtssoldaten die Schriften bei ihren Offizieren abgaben. Das sollten sie zumindest laut Anweisung. Einige Soldaten haben die Zettel aber auch in die Heimat geschickt.
Möglich geworden ist die Ausstellung, weil die Bremer Forschungsstelle Osteuropa, die ihren Sitz auf dem Uni-Campus in Horn-Lehe hat, Kopelews Archiv verwaltet. Kopelew hatte seine Unterlagen (600 Kartons!) dem Gründer der Forschungsstelle, Wolfgang Eichwede, mit der Bedingung, ein Archiv zu errichten, überlassen. Die Ausstellung ist angesichts des großen Materialfundus gut komprimiert. Kopelew hatte eine sehr enge Verbindung zu Bremen. Der Dissident war wegen der hier vorhandenen, regimekritischen Samisdat-Literatur in die Stadt gekommen und besuchte oft den Künstler Christian Modersohn in Fischerhude. Über diese besondere Beziehung Kopelews zu Bremen ist in der Ausstellung, die Kirsten Schaper von der Forschungsstelle Osteuropa konzipiert hat, leider nichts zu erfahren.
Kopelews späteres Leben, nach seiner Zeit als Propaganda-Offizier, reißt die Schau ebenfalls eher an. So ist zu erfahren, dass er nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands wegen „Mitleids mit dem Feind“ von den Sowjets verhaftet worden war. Er hatte sich gegen die Misshandlung von deutschen Kriegsgefangenen eingesetzt. Nach zehn Jahren Lagerhaft kam er 1954 frei. Doch weil sich der Schriftsteller für Humanität und Bürgerrechte einsetzte, wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Es folgten ein Berufsverbot und die Ausbürgerung 1981. Ein Radio- und ein Fernsehinterview zeigen den Kopelew, wie ihn die meisten Deutschen in Erinnerung haben: als einen Mann klarer Worte.
In das Gästebuch der Ausstellung, in das sich beim Besuch dieser Redaktion bislang erst drei Personen eingetragen hatten, hat der ARD-Journalist und frühere Moskau-Korrespondent Fritz Pleitgen, der dem Lew Kopelew Forum in Köln vorsteht, geschrieben: „Lew Kopelew wäre von dieser Ausstellung, online inklusive, begeistert. In seinem Namen sage ich: Danke!“ Wer sich für Kriegspropaganda interessiert, dem wird die Ausstellung gefallen. Über die Person Lew Kopelew möchte man nach der Ausstellung noch mehr erfahren.