Der Verein „Mehr Demokratie“ übt deutliche Kritik an der SPD-Kandidatenliste für die Bürgerschaftswahl im Mai: Kandidaten mit mehr Personenstimmen hätten das Nachsehen gegenüber abgesicherten Listenkandidaten. Der Einfluss der Parteien, welche Kandidaten in die Bürgerschaft kommen, werde größer. Der Einfluss der Wähler dagegen, wer über Personenstimmen ins Parlament einzieht, sinke. „Verantwortlich dafür ist das neue Wahlrecht, das die Parteien im Februar in der Bürgerschaft beschlossen haben. Die Parteien haben das Wahlrecht kastriert“, sagte „Mehr Demokratie“-Vertrauensperson Katrin Tober am Freitag.
Der Verein sammelt noch bis Mitte November Unterschriften, um über ein Volksbegehren das Wahlrecht erneut zu ändern. Kurz gefasst sollen danach in Zukunft die Personenstimmen entscheidend für den Einzug in die Bürgerschaft sein. „Die SPD war der treibende Motor der Wahlrechtsänderung im Februar“, sagte Tober. „Anhand der aktuellen Liste wird deutlich, dass sie ihre Versprechen aber nicht alle halten kann.“ Künftig würden nur noch drei oder vier Kandidaten von unsicheren Listenplätzen den Sprung in die Bürgerschaft schaffen.
Jüngere Kandidaten und Abgeordnete mit Migrationshintergrund würden benachteiligt. „Nur ein Kandidat unter 35 Jahre und kein Kandidat mit Migrationshintergrund haben einen sicheren Listenplatz. Angesichts dessen, dass 70 Prozent der türkischstämmigen Stimmberechtigten die SPD wählen, ist das heftig“, kritisierte die stellvertretende Vertrauensperson des Vereins, Judith Schultz. Derzeit liege die SPD in den Umfragen bei etwa 26 Prozent, von den 68 Kandidaten auf der Liste würde das 18 Mandaten für das Parlament entsprechen. Die Kandidaten auf den hinteren Listenplätzen müssten versuchen, über Personenstimmen ein Mandat für die Bürgerschaft zu bekommen.
Das sei angesichts des im Februar beschlossenen Wahlrechts aber deutlich schwieriger, so Schultz. „Gerade einmal drei oder vier Kandidaten auf unsicheren Plätzen können nach unseren Berechnungen den Sprung in die Bürgerschaft schaffen. 2015 waren es noch zehn Kandidaten.“ Unter den 18 aussichtsreichsten Listenplätzen seien zudem „gut betuchte“ Stadtteile wie Horn, Findorff, die Östliche Vorstadt oder Schwachhausen überrepräsentiert. SPD-Hochburgen wie Gröpelingen, Osterholz mit Tenever, Hemelingen oder Huchting würden klar benachteiligt. „Das ist deutlicher Beleg dafür, dass der Einfluss der Wähler mit dem seit Februar geltenden Wahlrecht geschwächt ist. Das war eine Änderung zugunsten der Parteilisten“, so Tober.
SPD weist Kritik zurück
Diese Kritik weist die SPD zurück. Landesgeschäftsführer Roland Pahl verweist auf die jüngsten Äußerungen von SPD-Chefin Sascha Aulepp (wir berichteten): Die Landesvorsitzende hatte gewarnt, dass das Modell von „Mehr Demokratie“, wonach die Personenstimmen entscheidend sein sollen, auf eine Zwangspersonalisierung hinauslaufe. Wähler hätten danach nicht mehr die Möglichkeit, eine Liste in der von den Parteien aufgestellten Kandidatenreihenfolge zu unterstützen.
Weitere negative Folgen im Falle eines erfolgreichen Volksentscheids sind laut Aulepp: ein Rückgang der Zahl weiblicher Abgeordneter und ein stärkeres Ungleichgewicht der einzelnen Stadtteile in der Bürgerschaft. Die von „Mehr Demokratie“ propagierte Änderung des Wahlrechts begünstige zudem Prominente mit Zugang zu den Medien und diejenigen, die die finanziellen Mittel hätten, sich bekannt zu machen, betonte die SPD-Chefin. Insbesondere auch für junge Menschen sei es damit noch schwerer, in das Landesparlament zu kommen.
Auch die Jungsozialisten lehnen den „Mehr Demokratie“-Vorstoß klar ab und haben einen entsprechenden Beschluss gefasst. Juso-Chef Sebastian Schmugler übt jedoch ebenfalls deutliche Kritik an der Kandidatenliste seiner Partei. Sie war am Sonnabend von den Unterbezirken Stadt und Nord abgesegnet worden, die Rangfolge in der Liste basiert auf Vorschlägen der sogenannten Mandatskommission. Schmugler: „Eine Erneuerung der Partei im Sinne einer Verjüngung sehen wir nicht. Unter den ersten 20 aussichtsreichen Listenkandidaten haben wir einen Altersdurchschnitt von 52 Jahren, nur einer ist unter 40. Das ist aus unserer Sicht deutlich zu wenig.“
Die Ortsvereine und die Partei insgesamt habe ein Nachwuchsproblem, insbesondere bei jungen Frauen. Grund dafür sei nicht, dass junge Menschen oder junge Frauen keine Politik machen wollten. „Sondern immer, wenn es etwas zu verteilen gibt, schaut die Partei bewusst weg – zumindest hat es den Anschein“, kritisiert der Juso-Chef. Mit jungen Kandidaten auf aussichtsreichen Listenplätzen würden auch progressive Themen wie Ausbildung und Studium verknüpft. Schmugler: „Auf den vorderen Plätzen in der Liste sind aber entweder sehr hochrangige Funktionäre gesetzt oder Personen, die sehr starke Fürsprecher in der Mandatskommission haben. Vielleicht sollte die Mandatskommission beim nächsten Mal mehr das Wohl der Partei im Blick haben, als das Wohl der eigenen Leute vor Ort.“