Wir sind nicht alle gleich. Dies nur vorweg. Anzuerkennen, dass Hautfarbe, Geschlecht oder sexuelle Orientierung eben doch eine Rolle spielen - nämlich vor allem für diejenigen, die vom Normativ, also einer vermeintlichen Normalität, abweichen - ist an dieser Stelle die Voraussetzung für die Idee hinter dem Begriff Intersektionalität.
Das Problem an der Sache ist bloß, dass sich eben diese Dinge negativ auf das eigene Leben auswirken können. Und zwar in einem Maße, das wir selbst kaum regulieren können. Zur Verdeutlichung startet dieser Text mit einem Experiment.
Ein Schritt nach vorn, zwei wieder zurück
Eine Gruppe unterschiedlicher Menschen steht auf der Startlinie einer Rennbahn. Bevor der Wettlauf beginnt, müssen die Teilnehmenden einige Fragen zu ihrem Leben beantworten: Stammen sie aus einer Akademikerfamilie? Hatten sie als Kind ein eigenes Zimmer? Sind die eigenen Eltern noch verheiratet? Kennen sie beide Elternteile?
Jedes Mal, wenn ein Teilnehmer eine der Fragen mit „ja“ beantworten kann, darf er einen Schritt nach vorn machen. Wenn die Antwort aber „nein“ lautet, geht er zwei Schritte zurück. Am Ende der Fragen stehen die Teilnehmer auf unterschiedlichen Positionen der Rennbahn. Als das Rennen startet, sind einige mit nur wenigen Schritten im Ziel, andere haben einen längeren Weg, sind also später im Ziel - selbst, wenn sie zu den besten Läufern der Gruppe gehören.
Dieses Experiment ist vor allem unter Pädagogen beliebt und wird so oder so ähnlich gerne angewandt, um Kindern das Konzept der Chancenungleichheit näher zu bringen. Meistens drehen sich die Fragen dabei um die Benachteiligung durch unterschiedliche Zugehörigkeiten zu sozialen Schichten.
Aber was, wenn es noch mehr Faktoren gibt, die bestimmen, wie leicht oder schwer es jemand im Leben hat?
Das Konzept der Intersektionalität
Ein Begriff, der in den vergangenen Jahrzehnten immer populärer wurde, ist der Begriff der Intersektionalität. Intersektionalität beschreibt verschiedene Kategorien sozialer Ungleichheit. In einem Wort wird die Anerkennung ganz unterschiedlicher Diskriminierungsformen vereint – und ihre Überlappungen. Intersektionalität bedeutet Mehrfachdiskriminierung und kann zum Beispiel heißen, dass eine Schwarze Frau anders behandelt wird als ein Schwarzer Mann, aber auch anders als eine weiße Frau. Sie erfährt verschiedene Formen von Diskriminierung, die sowohl einzeln, als auch als Bündel in einer neuen Diskriminierungsform stattfinden können. Diese Frau macht Erfahrungen mit Rassismus, aber auch mit Sexismus. Und sie kann in einem einzigen Moment sowohl rassistisch als auch sexistisch diskriminiert werden. Noch einmal anders verhält es sich, wenn eben diese Schwarze Frau beispielsweise körperlich oder geistig behindert ist. Oder homosexuell ist. Oder ein Kopftuch trägt.
Ein Begriff aus dem Leben
Anders als vielleicht vermutet, entstammt der Begriff Intersektionalität nicht etwa der Feder eines Sozial- oder Kulturwissenschaftlers und wurde auch nicht als rein theoretisches Konstrukt ins Leben gerufen. Geprägt wurde der Begriff Ende der 1980er-Jahre stattdessen von der renommierten US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw, die als Jura-Professorin an der UCLA (University of California, Los Angeles) und der Columbia Law School lehrt. Crenshaw hatte in einigen Gerichtsfällen Rechtslücken entdeckt: An Beispielen konnte sie aufzeigen, dass die Antidiskriminierungsgesetze unvollständig waren. Weil diese Grundlage fehlte, war es den Gerichten nicht immer möglich im Sinne der Opfer zu entscheiden. Crenshaw schrieb darüber später ein Essay und beschrieb die Problematik wie folgt:
So bekam der Begriff übrigens auch seinen Namen: „Intersektionalität“ kommt von dem amerikanischen Wort „Intersection“: Straßenkreuzung.
Heute ist der Begriff Intersektionalität – obwohl er so schwer von den Lippen geht – recht populär. Universitäten und andere Institute sprechen davon, dass sie intersektional arbeiten; und auch im Umfeld des modernen Feminismus findet sich das Attribut häufig. Mit dem Zusatz „intersektional“ öffnete sich die Bewegung endlich auch für Transfrauen (also Frauen, die mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden) oder für nicht weiße Frauen. Ein intersektionaler Feminismus kämpft also nicht mehr nur für die Rechte von Frauen, sondern auch gegen Rassismus und für die Interessen von Transmenschen.
Eine Utopie?
Intersektionalität ist damit nicht nur eine Kategorisierung sozialer Ungleichheiten, sondern beschreibt gleichzeitig die bedingungslose Akzeptanz aller Menschen, die entsprechend ihrer Fasson leben, ohne damit anderen Menschen zu schaden. Eine Utopie? Nein, bei intersektionalen Ansätzen geht es um Gerechtigkeit. Wohl jeder Mensch wurde schon einmal in einer Situation benachteiligt. Der Unterschied zu struktureller Diskriminierung ist aber: Eine einmalige Benachteiligung, die einem Menschen hin und wieder passiert, hat im Zweifel nicht diesen dauerhaften Effekt auf das Leben. Ein Beispiel: Frauen verdienen im Schnitt immer noch deutlich weniger Geld als Männer (sogar im direkten Vergleich zwei identischer Jobs), bekommen weniger häufig Kredite gewährt oder sind seltener in Führungspositionen vertreten.
So ist das Leben? Ja, aber eben nicht für alle.
Der Nutzen
Zunächst einmal hat das Konzept der Intersektionalität das Selbstverständnis gesellschaftlicher Bewegungen zum Teil bereits revolutioniert. Seit jeher haben sich Interessengruppen auf ganz spezifische Aspekte konzentriert. Ein Beispiel: Schon die ersten Frauenbewegungen haben sich in Arbeiterinnen-Bewegung und Bürgerliche Frauenbewegung aufgeteilt, weil die Lebensrealitäten der Frauen aufgrund der unterschiedlichen Klassen so unterschiedlich waren. Arbeiterinnen schufteten sich zu Tode und mussten sich anschließend auch noch um Kinder und Haushalt kümmern. Bürgerliche Frauen hingegen wurden zum Dekorationsobjekt degradiert. Die einen hatten keine Aufgaben, die anderen viel zu viele. Und obwohl die Gründe für die Probleme beider Bewegungen auf ein bestimmtes Frauenbild zurückzuführen waren, fanden die Parteien nicht zusammen. Die Arbeiterinnenbewegung schloss sich schließlich der Arbeiterbewegung an und musste ihre frauenspezifischen Themen fast ganz aufgeben.
Im intersektionalen Ansatz hingegen, findet eine Öffnung statt: Es geht nicht mehr zwangsläufig darum, wer am meisten diskriminiert wird. Stattdessen werden alle Formen von Diskriminierung wahrgenommen. Und hier findet sich ein weiterer Nutzen dieses Konzepts: Schon allein die Wahrnehmung von Diskriminierung als intersektional lässt uns im Alltag hellhöriger werden.
Etwas zu benennen hilft, es auch zu erkennen – um dann in einem zweiten Schritt dazu beizutragen, die Gegebenheiten zu verändern. Marilyn Monroe nutzte beispielsweise ihre Popularität (und ihre Privilegien), um der Jazz-Sängerin Ella Fitzgerald einen Aufstieg zu ermöglichen, der ihr sonst als Schwarze Frau verwehrt geblieben wäre. Beide Frauen hatten eine schwierige Kindheit, das verband sie. Aber anders als Fitzgerald war Monroe weiß – und hatte damit weniger Schwierigkeiten eine Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Fitzgerald bekam, trotz ihres Talents, zunächst keine Jobs. Irgendwann versprach Monroe einem Clubbesitzer, jeden Tag seinen Club zu besuchen, wenn er Fitzgerald engagiere. Und er stimmte zu. Heute gilt Ella Fitzgerald zu Recht als Ikone. Wenn wir also über Intersektionalität sprechen, dann sprechen wir auch über die Möglichkeit eines Zusammenhalts.
Was ist also das Ziel?
Wir können einen Zustand einrichten, in dem es einfacher und vor allem gewohnter wird, über Diskriminierung zu sprechen. Warum? Weil Gerechtigkeit eine der großen Fragen der Menschheit ist. Die Gesetzgebung wird laufend angepasst, ebenso wie Werte und Normen einer Gesellschaft.
Und auch aus einem weiteren Grund – kehren wir dafür zum Beispiel am Anfang dieses Textes zurück. Wir stellen zunächst fest: Das Leben ist natürlich kein Wettrennen. Es geht nicht für jeden darum, der Erste oder der Beste zu sein, für andere ist ohnehin der Weg das Ziel. Aber wir sehen einen begnadeten Läufer, vielleicht den nächsten Usain Bolt, der als einer der Letzten ins Ziel kommt, einfach, weil seine Mitmenschen einen schicksalsgegebenen Vorsprung haben. Im schlimmsten Fall wird diesem Läufer sogar noch ein Bein gestellt – und so bekommt er oder sie nie die Chance, uns in Staunen zu versetzen.
Wenn wir also davon ausgehen, dass Menschen aufgrund von Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder Sexualität einen Job nicht bekommen oder sich gar nicht erst dafür bewerben, müssen wir erkennen: Hier geht viel Potenzial verloren. Denn wer sagt denn, dass unter diesen Menschen nicht die nächsten Visionäre unserer Zeit sind? Vielleicht ist es eine schwarze Transfrau, die eine Lösung für den Klimawandel findet und so das Fortbestehen der Menschheit sichert. Schaffen wir ihr ein Umfeld, in dem sie sich auf die Wissenschaft konzentrieren kann, anstatt ihre Energie dafür zu verschwenden, ihre Existenz zu rechtfertigen. Wir können nur gewinnen.