Herr Börgerding, inwiefern halten Sie die vergangene Spielzeit für gelungen?
Michael Börgerding: Ich bin sehr zufrieden mit der Spielzeit. Es gab Produktionen, die ganz herausragend waren wie „Lady Macbeth von Mzensk“. Und es gab Inszenierungen, über die man sich streiten kann.
Welche sind das?
Viel ist ja über die „Fledermaus“ gestritten worden, wobei ich glaube, dass das eher ein Kommunikationsproblem war. Nach dem ersten Aufruhr von Operettenliebhabern hat sich ein Fan-Publikum für diese Aufführung gefunden, das gesehen hat, da passiert etwas, das ich nicht kenne, und ich kann mich ganz anders als sonst auf die Musik konzentrieren. Mich fragen viele, warum wir das nicht in der nächsten Spielzeit wieder aufnehmen.
Überlegen Sie, diese Bitte zu erfüllen?
Erst einmal ist es nicht geplant. Das war ja sowieso eine zusätzliche siebte Produktion, also außerhalb des Abos, ein Special. Das hätten wir deutlicher machen müssen.
Wie bei „Les Robots ne conaissent pas le Blues“, das mit Mozarts „Entführung aus dem Serail“ spielt?
Genau. Das hätte den Besuchern signalisiert, dass sie da nicht die klassische Operette mit allem Drum und Dran serviert bekommen. Wir hätten schon im Titel sagen müssen, wir machen da etwas, was nicht die erwartbare „Fledermaus“ ist.
Sie meinen, mit einer anderen Etikettierung wäre die Rezeption weniger aufgeregt gewesen?
Ja, das glaube ich. Nun war es allerdings so, dass wir anders als bei „Les Robots“ tatsächlich die komplette „Fledermaus“ spielen, die Inszenierung ja gerade die musikalische Ebene so wunderbar freilegt.
Vor ein paar Wochen gab es die Große Anfrage der CDU-Fraktion zum Theater, die der kulturpolitische Sprecher der Fraktion, Claas Rohmeyer, formuliert hat. Er wirft dem Theater vor, zu verkopft zu sein. Was sagen Sie dazu?
Ich halte das einfach für Unsinn. Sicher machen wir uns viele Gedanken und versuchen, in den Programmheften den einen oder anderen klugen Satz zu formulieren. Aber: „Istanbul“, „Bang Bang“, „Lazarus“ verkopft? „Der Barbier von Sevilla“ oder „Carmen“ verkopft? „Tom Sawyer“ verkopft? Herr Rohmeyer wirft uns schon lange vor, nicht breit genug aufgestellt zu sein und keine Operetten zu spielen. Das ist okay, man darf dabei aber nicht vergessen, wo wir herkommen.
Wo kommen Sie denn her?
Die Mitarbeiter des Hauses erinnern sich noch sehr gut an die Intendanz von Hans-Joachim Frey und deren Folgen. Meine erste Spielzeit vor schs Jahren stand im Zeichen von Strukturdebatten, Krisenszenarien sowie einer horrenden Verschuldung. Darüber hinaus waren wir die vierte künstlerische Leitung innerhalb von nur sechs Jahren. Es wäre schade, wenn das Theater durch diese Anfrage Thema im kommenden Wahlkampf würde – gerade nachdem der Kontrakt mit dem Theater von der SPD, den Grünen und der CDU gemeinsam beschlossen wurde. Uns macht diese Anfrage jetzt natürlich vor allem Arbeit . . .
...damit beziehen Sie sich auf die Anfrage nach den Besucherzahlen der vergangenen zehn Jahre?
Die Zahlen sprechen ja für sich. In dieser Spielzeit werden um die 180 000 Besucher gekommen sein, kalkuliert haben wir mit 170 000. Angefangen haben wir mit 156 000 in meiner ersten Spielzeit vor sechs Jahren. Und wir wollen die Zahlen natürlich weiter steigern in den nächsten Jahren.
Es geht bei der Anfrage auch darum, quasi bereinigte Zuschauerzahlen zu erhalten, bei denen die sogenannten Ehrenkarten und Freikarten an alle möglichen Gruppen und Besucher von der absoluten Zahl abgezogen werden.
Da muss man unterscheiden zwischen Ehrenkarten, die bei Premieren an Kulturpolitiker vergeben werden, Pressekarten, Marketingkooperationen. Das Freikartenkontingent für Mitarbeiter des Theaters haben wir stark gekürzt. Wir sind da schon sehr streng. Man muss aber auch sagen: Wir machen viele Veranstaltungen, bei denen wir keinen Eintritt nehmen, Diskussionsveranstaltungen oder die Schulvorstellungen im Moks beispielsweise. Da produzieren wir etwas, haben aber keine Einnahmen. Auch dieses Publikum muss man zählen.
Rückblickend auf die Saison gab es nicht nur Kritik von Herrn Rohmeyer, sondern auch von einem prominenten Theatermann. Claus Peymann hat das Theater Bremen in der Talk-Reihe WESER-STRAND ebenfalls dafür kritisiert, sich nicht genug an den Zuschauern zu orientieren. Ist davon etwas hängen geblieben?
Claus Peymann hat sich offiziell und unter Bühnenkollegen als Zeugen für diese Äußerungen bei mir entschuldigt und erklärt, wir machten ja ganz tolles Theater hier. Und dass er gerne für uns arbeiten würde.
Und?
Ich habe ihm versichert, dass ich darüber nachdenke.
Ein weiterer Aufreger zum Ende der Spielzeit war der Vorwurf, in der Inszenierung der Strawinsky-Oper „The Rake‘s Progress“ würde das Theater schwarze Menschen diskriminieren, weil die Figur des Schattens ein schwarz angemaltes Gesicht hatte. Sie haben diese Blackfacing-Posse aus der Welt geschafft, indem der Bariton Christoph Heinrich nun mit grau geschminkten Gesicht auftritt. Warum haben Sie diesem medial hochgejazzten Gezeter nachgegeben?
Es gab auch bei uns im Haus einige Mitarbeiter, die diese Kritik geteilt haben und sich auf das Konzept der Re-Kontextualisierung berufen haben. Das bedeutet: Das Schwarzschminken eines Menschen erinnert immer an eine kulturelle Praxis. Es war die Entscheidung des Regisseurs Michael Talke zu sagen: Lass uns das rückgängig machen. Wir haben das dann gemeinsam verantwortet, und die Inszenierung ist ja jetzt noch genauso stimmig wie vorher. Wenn man Rücksicht nehmen kann, ohne etwas zu verraten, habe ich damit kein Problem. Ich würde aber grundsätzlich weiterhin die Position vertreten, dass das für mich kein Blackfacing ist. Zeichen auf der Bühne sind grundsätzlich frei.
Die Frage bleibt, wo die Grenze für solche Zugeständnisse ist. Was ist, wenn Sie in der nächsten Saison einen Teufel haben, der komplett in Rot auftritt, und das als Kritik an der SPD gewertet wird?
Das ist immer eine Frage des Maßes. In dem aktuellen Fall haben beide Lager überreagiert. Die Kunstfreiheit zu verteidigen und dem Theater vorzuwerfen, es sei eingeknickt, hat dagegen für mich etwas von Gratismut. Ich finde, es ist eine Form von Höflichkeit, die wir in diesem Fall gewahrt haben.
Aber die Freiheit der Kunst sollte doch immer gegen alle Anwürfe verteidigt werden, oder?
Ja, aber hier wurde das doch etwas aufgebauscht. Deswegen, noch einmal: Wir wollten niemanden verletzen oder beschämen, deswegen haben wir das geändert. Das ist meine Haltung und die von Michael Talke. Bei uns im Theater gibt es alle Haltungen dazu, mal pro, mal contra.
Hat dieser Fall Sie stärker sensibilisiert dafür, was alles schiefgehen kann mit der Wahrnehmung des immer schon betroffenen Zuschauers?
In Sachen Blackfacing hat es mich schon noch einmal sensibler gemacht, wobei es diese Diskussion ja schon lange gibt im Theater. Es ist auch eine Aufgabe des Theaters, da zu vermitteln. Und es ist dann oft vermintes Gelände, in dem wir uns bewegen.
Blicken wir auf die kommende Saison: Sie konnten Armin Petras als festen Regisseur hinzugewinnen. Nun steht Alize Zandwijk im Schauspiel für eine sehr körperliche Art zu inszenieren, Petras ist sehr bildermächtig. Was heißt das für das Profil des Schauspiels?
Es sind beides starke Schauspieler-Regisseure. Petras ist sehr schnell und hat Härte, die auch weh tun kann; er ist ein sehr politisch denkender Mensch, der einen Blick dafür hat, wie man Konflikte schärfen kann. Er schaut dabei sicher nicht so empathisch auf die Figuren, wie Alize Zandwijk es tut.
Auch die Tanzsparte stellt sich gewissermaßen neu auf. Hat das noch andere Gründe als den, dass Samir Akika sich zunehmend anderen Projekten widmen möchte?
Es ist eine Fortschreibung und ein Neuanfang. Alexandra Morales hat mit Samir Akika die „Unusual Symptoms“ gegründet und ist seine engste Begleiterin; Gregor Runge ist seit Langem der Dramaturg dieser Sparte. Samir Akika wollte weniger machen, daher hat er die Leitung an die beiden abgegeben. Weil auch Tänzer aufhören und fünf neue zu den drei verbliebenen hinzukommen, ist
das jetzt schon ein deutlicher Umbruch.
Aber das Profil wollen Sie beibehalten? Eine Rückkehr zu einem eher klassischen Tanztheater beispielsweise der 1990er- oder gar 1980er-Jahre ist nicht denkbar?
Die Frage ist, ob das zukunftsträchtig und wegweisend wäre. Und das denke ich nicht. Gerade unsere Tanzsparte findet ja ein junges Publikum. Ein wenig ist das wie mit der Forderung, die gute alte Operette wieder ins Programm zu nehmen. Das Publikum dafür gibt es nur noch begrenzt. Und ein neues ist nicht in Sicht.
Damit sind wir bei der Frage, wie sich ein Stadttheater heute eigentlich aufstellen muss, um die nächsten Jahrzehnte bestehen zu können.
Das Grundproblem ist, dass die Anforderungen heute ganz andere sind als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Da gab es beispielsweise noch keine Netflix-Serien, es gab keine Smartphones, es gab keine Live-Übertragungen von Opern-Aufführungen im Kino. Und auch für das Bürgertum ist ein Theater-Abonnement nicht mehr selbstverständlich.
Wird Ihnen da nicht angst und bange als Intendant?
Wir müssen Antworten auf die Fragen finden, wie man ein junges Publikum anspricht aber auch eins, das nicht aus den klassischen kulturaffinen Schichten kommt. Gleichzeitig wollen wir weiterhin auch für das Publikum Theater machen, dass uns seit Jahren und Jahrzehnten treu ist. Also ein Theater sein, dass offensiv reagiert auf eine veränderte diverse Stadtgesellschaft. Das ist eine Herausforderung, die Spaß machen kann und spannend ist. Ich denke, da geht es dem Stadttheater nicht anders als der Tageszeitung.
Um was machen Sie sich mehr Sorgen, um das Musiktheater oder um das Schauspiel?
Schon eher um das Musiktheater. Im Schauspiel haben wir ja nicht nur mit „Lazarus“ oder „Bang Bang“ geschafft, das große Haus zu füllen, sondern auch mit „Der gute Mensch von Sezuan“ oder „Die Ratten“, weil die Inszenierungen offenbar einen Nerv treffen. Im Musiktheater ist es schwieriger, Themen zu finden, die von solcher Tragweite sind, was natürlich auch an dem Kanon liegt. Mit „Lady Macbeth von Mzensk“ ist uns das gelungen, es gab sogar Zusatzvorstellungen. Es geht um eine eigene Handschrift, um die Wiedererkennbarkeit eines Ensembles, das bei uns ja sehr gut aufgestellt ist. Es geht um Qualität und auch um das, was man nicht macht. Dass man auf Augenhöhe mit seinem Publikum bleibt. Das ist für mich der heutige Bremer Stil.
Wie stellen Sie sich die etwas fernere Zukunft vor? Was gibt es an Perspektiven?
Ab 2020 soll es in Bremen ja mehr Spielräume geben, womöglich auch mehr Geld im Kulturetat. Wir hätten da ein paar Vorschläge, wie man mit relativ wenig zusätzlichen Mitteln Sinnvolles machen könnte.
An was denken Sie?
Wir möchten gerne das Kinder- und Jugendtheater ausbauen. Außerdem brauchen wir eine dritte Bühne, ähnlich wie früher das „Concordia“, für kleinere Produktionen, die man dort en suite spielen könnte. Und wir konzipieren eine Bürgerbühne als fünfte Sparte, also eine kontinuierliche Arbeit mit Laien, mit Jugendlichen, mit Bürgern und Bürgerinnen. Es geht um Partizipation und Öffnung – etwas, was das Theater noch einmal ganz anders verankert in der Stadt. Wir haben sechs Jahre lang still gehalten und das Haus konsolidiert, Schulden, die wir nicht gemacht haben, zurückgezahlt und die Freie Szene unterstützt. Jetzt ist es an der Zeit, auch mal Forderungen zu stellen, um dem Theater eine Zukunft zu sichern.
Das Gespräch führten Iris Hetscher und Hendrik Werner.
Michael Börgerding studierte Germanistik, Soziologie und Philosophie an der Univerität Göttingen, hat in Göttingen, Hannover und am Hamburger Thalia-Theater als Dramaturg gearbeitet. Seit der Spielzeit 2012/13 ist der 58-Jährige Generalintendant des Theaters Bremen.
Weitere Informationen
Zum Spielzeitauftakt lädt das Theater am Sonnabend, 8. September, zum Tag der Offenen Tür. Bereits am 22. August startet das Moks mit der Wiederaufnahme von „Waisen“. Die erste Premiere im Schauspiel: „Nathan der Weise – Weichmacher für den Glaubenspanzer“, 7. September. Die erste Premiere im Musiktheater: „Fidelio“, 16. September.
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