New York/Bremen. Authentischer kann der Sound von New York City nicht klingen: Während sich auf der 8th Avenue gerade wieder ein Krankenwagen wimmernd seinen Weg durch die Blechmassen bahnt, erklingen zwölf Stockwerke weiter oben die ersten Takte von Leonard Bernsteins „Cool“. Jazz der 1950er. Eines der bekanntesten Stücke der West Side Story. Fingerschnipp-Sound. Das schwarze Piano, das für die Töne verantwortlich ist, steht in Raum 1204 der Pearl Studios, wo sich Amerikas Musical-Nachwuchs zum Vorspielen für die große „West Side Story“-Welttournee versammelt hat. Vom 17. bis zum 20. November wird die Produktion im Bremer Musical Theater zu sehen sein.
In den New Yorker Pearl Studios sind die 18 bis 22 Jahre jungen Tänzerinnen und Tänzer aber noch weit von einer großen Bühne entfernt. Die Vorhänge vor der verspiegelten Längswand sind aufgezogen, auf den Tischen wird der Kaffee in den unzähligen Pappbechern langsam kalt und in der Luft hängt ein Mix aus gespannter Erwartungshaltung und schwitzig-schwüler Prüfungsangst. Regisseur und Choreograph Joey McKneely und der musikalische Direktor Donald Chan sind schließlich nicht irgendwer, sondern wahre Legenden der „West Side Story“. Und wer eine Rolle bekommen und dafür die Besten überzeugen will, der muss selbst zu den Besten gehören. „Was dieses Musical für mich bedeutet? Einfach alles“, wird Joey Mc Kneely später sagen. Die Story stammt zwar aus den 1950er-Jahren, hat aber in seinen Augen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. „Das Kämpfen hört ja nie auf. Konflikte zwischen Einheimischen und Zuwanderern finden wir doch auf der ganzen Welt“, sagt er. Davon abgesehen, funktioniere eine gute Love-Story einfach immer.
„Nichts zu verbessern“
Die „West Side Story“ ist die Musical-Version von Romeo und Julia. Nur eben ohne Romeo, Julia, Verona, Nachtigall und Balkon. Dafür mit Tony, Maria, Upper Westside, Feuerleitern und hitzköpfigen Jugend-Gangs. Als einer von gerade einmal drei Regisseuren weltweit darf Joey McKneely die Original-Choreografie von Jerome Robbins auf die Bühne bringen. Er selbst hat noch unter dem Meister getanzt und hält dessen vorgegebene Schritte, Sprünge und Drehungen bis heute für unerreicht. „Da gibt es einfach nichts zu verbessern“, sagt McKneely. Seine „West Side Story“ darf sich deshalb „Originalproduktion“ nennen. Bei der Auswahl der Darsteller ist dagegen zwangsläufig Aktualität gefragt. „Was wir suchen, sind junge, unverbrauchte Typen“, sagt der ausführende Produzent Martin Flohr. „Sänger, Tänzer und Schauspieler, die glaubhaft das Lebensgefühl einer Jugend-Gang widerspiegeln.“
Vielleicht so einen Charakter wie Daniel. Der Junge ist noch keine 20 und sieht aus, als wäre er gerade aus der Cornflakes-Werbung entsprungen. Beim Tanz-Casting hat er seine Mitstreiter vor ein paar Minuten reichlich alt aussehen lassen. Daniel hat Rhythmus, Daniel hat Gefühl, und er hat Power. Beste Voraussetzungen also. Jetzt aber steht er ganz allein vor den drei zusammen geschobenen Tischen und soll dem Regisseur, dem Musik-Direktor, dem Produzenten und all den anderen wichtigen Leuten solo vorsingen. Das Piano erklingt, und Daniel fängt an: „The Jets are gonna haver their day tonight/The Puerto Ricans grumble: Fair Fight/But if they start a rumble/We’ll rumble ‘em right.” Es braucht keinen Musical-Experten, um festzustellen: Beim Gesang hat Daniel deutlichen Nachholbedarf. Zeitweise klingt das Piano fast lauter als seine jugendliche Stimme. Wer jetzt jedoch gnadenlose Jury-Kommentare erwartet hätte, knallharte Ansagen und Gepolter, liegt völlig falsch. „Thank you so much”, flötet Joey McKneely, nickt aufmunternd und lächelt freundlich. So macht er es immer. Dutzende Male an diesem Tag.
Daniel darf draußen von den Mitarbeitern der Casting-Agentur seine Maße nehmen lassen. Der erste Schritt zu einem auf den Leib geschneiderten Bühnenkostüm als Jet-Boy. Daniel strahlt sein Cornflakes-Strahlen: „Danke, dass ihr euch für mich die Zeit genommen habt.“ Auditions in den Pearl Studios sind auch immer so was wie Höflichkeits-Wettbewerb. Vor mehr als zehn Jahren hat die deutsche Produktionsfirma „BB Promotion“ ihre Originalversion der „West Side Story“ erstmals auf die Bühnen der Welt gebracht. Für jede neue Produktion fängt der Casting-Prozess wieder ganz von vorne an. Die jetzige Tour führt das Ensemble in mehr als 40 Wochen von Europa bis nach Asien und ist dabei sogar eine echte Besonderheit. Die drei Urväter des Musicals, Leonard Bernstein (Musik), Arthur Laurens (Text) und Jerome Robbins (Choreografie), würden alle demnächst ihren 100. Geburtstag feiern. „Das Centennial begleiten zu dürfen, ist für uns alle eine Ehre“, sagt der musikalische Direktor Donald Chan. Kein Mensch auf der Welt hat die Mutter aller Musicals so oft dirigiert wie er. Mindestens tausend Mal hat er den Gesang der Jet-Boys und Shark-Girls untermalt.
Auf der Tour greift Chan an jedem Spielort auf regionale Konzertkräfte zurück. Acht Musiker jedoch nimmt er von New York mit in die Welt. „Das gibt Sicherheit“, verrät der Direktor. „Für mich und für das Ensemble.“ Am Ende des langen Casting-Tages liegen die Mappen der einzelnen Darsteller verstreut auf den Tischen. Joey McKneely hat sein knappes Tänzer-Outfit längst gegen ein blaues Business-Hemd und Anzughose getauscht und steckt mit den anderen die Köpfe zusammen. Ob unter all den tollen Künstlern ein funkelnder Diamant dabei war, will er nicht verraten. Auf dem Flur bildet sich derweil eine lange Schlange vor dem Aufzug. Auch hier geben sich alle erfrischend unaufgeregt, freundlich, höflich. Unten angekommen, werden die angehenden Musical-Stars gleich wieder von der Hektik der Weltmetropole verschluckt werden. In den nächsten Stunden, Tagen und Wochen werden sie immer wieder auf ihre Smartphones blicken, in der Hoffnung, dass der Anruf endlich kommt. Der Ruf der West-Side-Story.