Das neueste Gregorian-Werk „Pure Chants II“ enthält Neuinterpretationen von "Greensleeves", "Rivers of Babylon" oder "Gaudete". Was ist aus Sicht des Produzenten das Reizvolle an solchen Evergreens?
Frank Peterson: Auf dem Album haben wir erneut puristische klassische Chormusik in unserem Stil umgesetzt. Es gibt ja Tausende von Chorwerken, aus denen ich mir das ausgesucht habe, was mir irgendwie gefällt und mich emotional berührt.
Welche Beziehung haben Sie zu den „Carmina Burana“, deren berühmten Chorsatz "O Fortuna" Sie auf "Pure Chants II" neu interpretieren?
Carl Orffs Musikverlag ist sehr bemüht, dass mit seinen Kompositionen kein Schindluder getrieben wird. Er möchte eigentlich keine freien Interpretationen dieses Werkes haben. Wir haben vor über zehn Jahren die Genehmigung bekommen für eine Metalversion, die auf unserem Album „The Dark Side“ erschienen ist. Der Text ist ja sehr düster und dunkel. Der Verlag fand es gut, weil wir die Komposition integer dargeboten haben. Jetzt haben wir „O Fortuna“ als reines Chorwerk ohne Orchester aufgenommen.
1983 nahm Doors-Organist Ray Manzarek die kompletten „Carmina Burana“ auf – mit Gitarren, Bass, Synthesizer und Saxofonen. Was gefällt Rockmusikern an diesem Werk?
Wenn man so will, klingt „Carmina Burana“ wie eine Urform von Heavy Metal. Wir haben die Nummer damals so gemacht, als würde Carl Orff mit Black Sabbath spielen. Für Puritaner ist das wahrscheinlich ein Verbrechen an der klassischen Musik, ich fand es aber sehr passend. Wir haben das Stück ganz ernsthaft ins Heute transportiert.
Die meisten Gregorian-Chormitglieder stammen aus England. Ist dort der Bezug zum Singen noch ein bisschen emotionaler als bei uns?
Alle sind aus England. Für mich war von Anfang an klar, englische Songs mache ich nicht mit deutschen, polnischen oder ukrainischen Sängern. Ich mag es nicht, wenn mit Akzent gesungen wird. Man soll die Texte verstehen. In England trifft man auf eine sehr große professionelle Choralszene. Dem zufolge gibt es dort viel bessere Sänger. Wir haben jetzt seit zwölf Jahren ein festes Kernensemble von 14 Leuten.
Ist es für Sängerinnen und Sänger, die oft solistisch singen, schwerer, sich in einen Chorklang zu integrieren?
Bei uns sind keine wirklichen Solisten tätig. Ich sehe es eher so, dass ich aus Chormitgliedern Solisten mache. Jeder in unserem Ensemble hat in einem Konzert ein oder zwei Soloauftritte. Das sind alles Top-Vokalisten mit einer klassischen Ausbildung. Die können ohne viel Vibrato Töne halten, das ergibt den typischen Gregorian-Sound. Im Englischen nennt man diese Kunst „Plain-Song“. Unsere Sänger sind auch dazu in der Lage, sich mit moderner Popmusik auseinanderzusetzen. Ein klassischer Heldentenor würde gar nicht zu uns passen.
Gregorianischer Gesang ist angeblich das erste Beispiel für christliche liturgische Musik, das geschrieben und erhalten wurde. Warum ist alte Musik heute so beliebt?
So wie es in den Geschichtsbüchern steht, ist er von Papst Gregor dem Großen im siebten Jahrhundert entwickelt worden, weswegen es Gregorianik heißt. Es gab damals noch keine Noten, wie wir sie heute kennen. Die wurden anders notiert. Es gibt heute nur noch wenige Spezialisten, die das können. So spezialisiert sind wir nicht, wir transkribieren alles auf heutige Noten und interpretieren es so, wie wir es für richtig halten. Gerade bei diesen beiden Alben haben wir versucht, die Stücke so authentisch wie möglich umzusetzen und sie hoffentlich für die Massen kompatibel zu machen.
Warum spricht Choralgesang auch heute viele Menschen an, selbst wenn sie der Religion kritisch gegenüber stehen?
Das eine ist Musik, das andere Spiritualität. Beide haben nicht so viel miteinander zu tun. Ich könnte mir vorstellen, dass sehr viele Menschen den Kölner Dom besuchen, die überhaupt nicht gläubig sind. Das Gebäude ist halt wunderschön. Das Gleiche gilt für die Musik. Viele, die unsere Platten kaufen oder zu den Konzerten kommen, sagen, die Musik gebe ihnen Kraft, Ruhe, Ausgeglichenheit. Das ist das Geheimnis, warum Gregorian sich so gut hält. Wir vermitteln etwas, was man woanders nicht kriegt.
Was ist das Besondere an Ihrem Publikum?
Es ist quasi ein Abbild der Gesellschaft: Total querbeet zwischen 16 und 70 Jahren mit genauso vielen Frauen wie Männern. Zu uns kommen auch viele Gamer und Mittelalter-Fans, teilweise sogar in Kostümen.
Sie haben mit Enigma mehr als 30 Millionen und mit den Gregoriann Voices 10 Millionen CDs verkauft. Die Zeit der Compact Disc scheint aber abzulaufen. Trauern Sie der CD hinterher?
Ja, ich finde diese Entwicklung schade. Ich bin halt mit Plattenläden wie WOM und Tower Records aufgewachsen. Ich wusste früher immer, was und wer gerade in den Charts hoch platziert war. Heute ist mir das völlig egal, denn die Single-Charts wirken manipuliert, intransparent und haben dadurch wenig Aussagekraft – und für mich jegliche Wertigkeit verloren. Auch die Musik hat sich sehr geändert. Viele Künstler machen nur noch Songs mit einer Länge von zwei Minuten. Weil ja der Stream nach 30 Sekunden zählt. Warum sollte man da vier Minuten lange Nummern machen. Damals fanden wir Künstler das formatierte Radio ganz furchtbar, aber heute ist alles noch viel schlimmer!
Heute muss man auf eine andere Art und Weise kreativ sein, wenn man einen Streaming-Hit landen möchte.
Vor allem musst du gucken, dass du am besten gleich mit dem Refrain anfängst und in den ersten fünf Sekunden eine Signalwirkung raushaust. Die Idee, wie Pink Floyd einen Song über 15 Minuten einfach wachsen zu lassen, kannst du heute vergessen. Bei der mittlerweile üblichen, eher geringen Aufmerksamkeitsspanne entscheiden bereits die ersten Sekunden über Hit oder Niete.
Das Gespräch führte Olaf Neumann.