Wenn er an seine Studentenzeit in Göttingen denkt, wird dem Präsidenten der Bremischen Bürgerschaft „warm ums Herz“. Nicht so sehr, weil Christian Weber in den 70er-Jahren für zentral gelegenen Wohnraum in der niedersächsischen Universitätsstadt nur 120 Mark aufwenden musste. Vielmehr deshalb, weil sich seine Lehramtsstudien für die Sekundarstufe II – Fächer: Geschichte, Geografie und Sozialkunde – in einer Studentenbude zutrugen, deren Adresse eine denkwürdige literarische und politische Aura hat: die Düstere Straße, ein kulturhistorischer Lichtblick der Stadt, ein Ort mit einem beispiellosen Nimbus. „Steidlville“ nennen ihn Vertreter der Buchbranche ehrfürchtig.
Im Gebäude mit der Hausnummer 4 ist nämlich jene Druckerei beheimatet, die seit Jahrzehnten zu den berühmtesten Druckerpressen der internationalen Verlagswelt zählt. Sie gehört zum Steidl-Verlag, den der Grafiker und Drucker Gerhard Steidl im politisch umtriebigen Jahr 1968 gründete. Seit Mitte der 80er-Jahre erscheinen dort die Werke des Steidl verbundenen Dichters Günter Grass (19327-2015); seit 1993 hält der Verleger, den Grass zärtlich als „Manchester-Kapitalist mit Manieren“ schmähte, sogar die weltweiten Rechte am Werk des Nobelpreisträgers (1999). Ohne dessen linksliberale Künstlermanufaktur wären Produktivität und Marktwert des Literaturweltstars Grass geringer ausgefallen. Von Göttingen, heißt siegen lernen.
Mit Blechtrommel-Wirbel
Weil sich im Laufe der Jahrzehnte viel Material ansammelte, das die Veröffentlichungen von und über Grass flankierte, machte Steidl nach dessen Tod aus der notorischen Platznot in der Düsteren Straße eine zukunftsweisende Tugend: Er hob im Juni 2015 ein neues Grass-Archiv aus der Taufe. Und streute in einer prophylaktischen Besänftigungsgeste die Artigkeit, dieser Fundus sei mitnichten eine Konkurrenz zum Medienarchiv der Bremer Grass-Stiftung, sondern nur und immerhin ein notwendiges Pendant zu dessen verdienstvoller Arbeit.
Steidl brachte damals in das Göttinger Archiv das ein, was Grass im Zuge seiner Verlagskooperation hinterlassen hat: containerweise Korrekturfahnen, Manuskripte, Zeichnungen, Skizzen, Umschlagentwürfe, Korrespondenz. Eine Schatzkammer für Philologen, die direkt neben dem Verlagsgebäude in der Altstadt mit Feierlichkeiten eröffnete, die eines Staatsakts würdig gewesen wären: Aufgeschlossen wurde das Archiv von Ute Grass, der Witwe des teuren Toten; dazu erklang ein Blechtrommel-Wirbel.
Weil der Steidl als ökonomischer Denker nicht nur manierlich, sondern vor allem smart ist, unternimmt er drei Jahre nach der Archiv-Gründung den nächsten Schritt, um Grass' Nachlass angemessen einzubetten: Die am Montag bekannt gewordene Übergabe der Archivalien an eine zu diesem Zweck etablierte Treuhandstiftung der Universität Göttingen (wir berichteten) erfüllt zwei bedeutsame Zwecke: die systematische Erschließung des gigantischen Konvoluts nimmt – und die Zugänglichmachung des Materials zu Forschungszwecken binnen zwei Jahren.
Während in Göttingen Nägel mit Köpfen gemacht werden, bleibt die Zukunft der Bestände des Medienarchivs der Grass-Stiftung Bremen weiter in der Schwebe. Deren Funktionäre – Stiftungsvorstand Christian Weber, Vorstandsvorsitzender Klaus Meier und Geschäftsführer Horst Monsees – ringen zwar um eine zeitgemäße Pflege und Ausstattung des auf dem Campus der Jacobs University beheimateten Medienarchivs, dessen Ton- und Filmdokumente bis 1955 zurückreichen. Aber außer sporadischen Ankündigungen zu neuen Formen einer digitalisierten Archivierung und vage in Aussicht gestellten Kooperationen mit dem Günter-Grass-Haus Lübeck und dem Seminar für deutsche Philologie an der Universität Göttingen ist nichts passiert.
Außenwirkung ist unrühmlich
Als vor knapp sechs Monaten bekannt wurde, dass die frühere Geschäftsführerin der Grass-Stiftung Bremen die Kasse ihres Arbeitsgebers geplündert hat, war das bloß der unsägliche Kulminationspunkt einer Reihe von Pannen, die das Ansehen der Einrichtung beschädigt haben. Ohnehin ist deren Außenwirkung seit geraumer Zeit unrühmlich. Das ersehnte Forscherinteresse bleibt bis heute aus – auch wegen der technologisch defizitären Aufbereitung der Archivalien. Wenn der Vorstand einer Stiftung bemerkt, dass deren Elan erloschen ist, ist es hohe Zeit für Änderungen. Doch außer der halbjährlich neu aufgelegten Beteuerung, Sondierungsgespräche mit Lübeck und Göttingen würden geführt, und dem ehrbaren Wunsch, das Medienarchiv in Bremen zu halten, ist die Stiftung offenbar mit ihrem Grass am Ende.
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