Bremen. Es existiert eine unausgesprochene Regel unter den Machern von Filmen und Serien, die eigentlich unantastbar ist: Jede erfolgreiche Geschichte braucht Charaktere, mit denen der Zuschauer sich identifizieren kann, mit denen er im Optimalfall sogar sympathisiert. Der Streaminganbieter Netflix, in diesen Tagen populär wie nie zuvor, hat diese Regel nun endgültig außer Kraft gesetzt. Mit der Doku-Serie „Tiger King“ liefert Netflix in sieben Folgen ein komplettes Ensemble von Protagonisten, die untereinander um den Titel der abstoßendsten Figur zu kämpfen scheinen.
Dass „Tiger King“ trotz dieses Regelbruchs so erfolgreich ist, hat mehrere Gründe, von denen der wichtigste im Namen „True Crime“ – wahres Verbrechen – steckt. Mit diesem Stempel versehen momentan nicht nur Scharen von Podcast-Produzenten ihre Produkte; auch die Streaminganbieter sind längst auf den Zug aufgesprungen. Nun also mit „Tiger King“ – einer Serie, die sich mit folgenden Schlagwörtern beschreiben lässt: Tiger, Auftragsmord und sektenähnlicher Personenkult. Wem das noch nicht ausreicht, der kann Polyamorie hinzufügen. Oder abgerissene Körperteile. Mysteriöse Vermisstenfälle und eine Präsidentschaftskandidatur? „Tiger King“ hat all das und noch viel mehr zu bieten. Im Zentrum dieses Sammelsuriums steht der bunteste Vogel von allen: Joe Exotic alias Joe Schreibvogel alias Joe Maldonado-Passage. Joe Exotic, zu Beginn der Serie Anfang 50, führt einen privaten Zoo in Oklahoma. Er trägt einen gefärbten Vokuhila und schillernde Klamotten, schmust mit den Raubkatzen und bezeichnet sich als „König der Tiger“. Joe Exotic ist zudem ein homosexueller Waffennarr, der mit zwei neunzehnjährigen, drogensüchtigen Männern gleichzeitig verheiratet ist.
Joe Exotics größte Rivalin ist Carole Baskin, die sich dem Kampf gegen die private Haltung von Raubkatzen verschrieben hat. Oder will sie sich nur möglichst profitabel vermarkten? Das jedenfalls wirft Joe Exotic seiner Erzfeindin vor, und irgendwie kann man das als Zuschauer sogar nachvollziehen. Die Fehde spitzt sich immer weiter zu, bis der exzentrische Zoobesitzer Baskin öffentlich mit dem Tod droht.
Fünf Jahre haben die Macher der Serie, Eric Goode und Rebecca Chaiklin, an „Tiger King“ gearbeitet. „Das kann doch alles nicht wahr sein.“ Dass Goode und Chaiklin diese Reaktion beim Zuschauer möglichst oft hervorrufen wollten, ist offensichtlich. Und logisch ist es natürlich auch, können sie doch immer antworten: „Ist es aber.“ Und auch wenn das zu stimmen scheint, bleibt die Frage, ob es die maximale Bewaffnung gebraucht hätte. „Tiger King“ bietet ohnehin alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Dokumentation. Da sind die Tiere, die massenhaft spektakuläre Szenen liefern. Da sind haufenweise Exzentriker aus dem Süden der USA, die Konflikte und Kameras gleichermaßen suchen. Und dann ist da dieser spürbare Drang der Produzenten, das Ganze nochmal aufzuheizen – noch mehr Schnitte, noch mehr Spannungsbögen, noch mehr Fehden.
All das gehört zu einem dokumentarischen Stil, der sich immer mehr als typische Netflix-Eigenheit manifestiert. Was im vergangenen Jahr bereits bei „Don‘t fuck with Cats“ zu sehen war – einer True-Crime-Doku, die die Jagd auf einen Tierquäler und Serienmörder zeigt –, hat „Tiger King“ nun auf ein neues Level gehoben. Die Katzen sind eine Nummer größer, die Charaktere in Summe noch extremer, aber auch noch unsympathischer geworden. Ob Netflix im Doku-Geschäft auch andere, leisere Töne anschlagen kann, wird sich zwangsläufig bald zeigen – noch größere Katzen als in „Tiger King“ gibt es nämlich nicht.
Weitere Informationen
Tiger King. Sieben Folgen, ab 16 Jahren. Anbieter: Netflix
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