Bremen. So wortwörtlich wollten die französischen Poststrukturalisten ihre These vom Verschwinden des Autors wohl gar nicht verstanden wissen: 1968 hatte der Semiotiker Roland Barthes (1915-1980) in dem vielbeachteten Aufsatz „Der Tod des Autors“ mit der bis dahin gängigen literaturwissenschaftlichen Ansicht gebrochen, der zufolge Schriftsteller die totale Kontrolle über ihre Schöpfungen besitzen. An die Stelle der unumschränkten „Werkherrschaft“ eines allmächtig, ja gottähnlich gedachten Autors, dessen Vita zwanghaft mit seinem Werk zu verrechnen sei, tritt in diesem Modell ein Souverän namens Leser. Nur seiner Autorität obliegt es, die Einheit und die Intention eines Textes zu konstruieren. Die „Geburt des Lesers“, schreibt Barthes planvoll pathetisch, werde „mit dem Tod des Autors bezahlt“.
Mit diesem delikaten Diktum schien der Weg bereitet, um die Interpretationen literarischer Texte – endlich! – vom biografischen Ballast ihrer Urheber befreien zu können. Aber mussten die plötzlich und unerwartet von aller Verantwortung freigesprochenen Autoren gleich so weit gehen, ihren Abgang als öffentliche Personen so radikal zu inszenieren wie der Womanizer, Überflieger und Kinoproduzent Howard Hughes (1905-1976), der 1958 zu einem pathologisch menschenscheuen Eremiten wurde? Ein Mann, den der französische Philosoph Paul Virilio (1932-2018) als Leitfigur einer „Ästhetik des Verschwindens“ (1986) ausrief, den Leonardo DiCaprio in Martin Scorseses Biopic „Aviator“ (2004) virtuos als Phobiker anlegte – und dem der Dramatiker Heiner Müller das Gedicht „Fernsehen“ widmete, in dem es heißt: „Outside lives man the beast / On the screen at least / It is flat and doesnt watch you.“
Verlorene Spuren
Auch Hughes machte sich sozusagen dünn. Gerade so wie Thomas Pynchon (Jahrgang 1937), dessen lebensweltliche Spuren sich sinnigerweise zeitnah zu Barthes‘ Rede vom Tod des Autors verloren. Weder tritt der US-Romancier („Die Enden der Parabel“) öffentlich auf, noch gibt er Selbstauskünfte oder auch nur poetologische Hinweise. Die von Pynchon existenten Fotografien sind mehr als fünf Jahrzehnte alt, und es verwundert nicht, dass eine Figur gleichen Namens in der popkulturell besonders ergiebigen Zeichentrickserie „Die Simpsons“ grundsätzlich mit einer Tüte über dem Kopf auftritt.
An ein Phantom gemahnte zu Lebzeiten auch der US-Erzähler Jerome David Salinger (1919-2010). Zwei Jahre nach seinem Welterfolg „Der Fänger im Roggen“ (1951) um drei wahnwitzige Tage im Leben des 16-jährigen Schülers Holden Caulfield zog er sich zurück. Seine raren öffentlichen Auftritte beschränkten sich über Jahrzehnte auf Prozesse gegen Journalisten, die über sein Leben schreiben wollten. Ein Leben, das der Autor für nicht erzählenswert erachtete – und das dadurch umso mehr zur probaten Projektionsfläche wurde.
Zuletzt war es – credo quia absurdum – wie im Fall Hughes eine notgedrungen spekulative und doch formidable Filmbiografie, die an J. D. Salingers Eremiten-Entscheidung erinnerte: In Danny Strongs betörendem Biopic „Rebel in the Rye“ (2017), das nach Kenneth Slawenskis Biografie „Das verborgene Leben des J. D. Salinger“ (2010) entstand, brilliert Nicholas Hoult als Schriftsteller, Kevin Spacey wiederum – ja, genau der – in der Rolle seines Mentors Whit Burnett. Eindringlich führt der Film Ereignisse vor, die Salingers Erweckung und Verstummen als Autor beeinflusst haben – darunter sein traumatisch grundierter Kriegseinsatz in Europa und seine unerfüllte Liebe zu Oona O‘Neill, die ihm ein gewisser Charlie Chaplin abspenstig gemacht hatte. Ein weiterer sehenswerter Film, der von Salingers verhohlener Lebensgeschichte inspiriert wurde, ist „Forrester – Gefunden!“. Sean Connery spielt in dieser Regiearbeit von Gus van Sant aus dem Jahr 2000 den verbitterten Autor William Forrester, der sein Seelenheil nach einem frühen Romanerfolg in der Weltflucht sucht.
Am 1. Januar hat sich Salingers Geburtstag zum 100. Mal gejährt. Der Tag verstrich mit handelsüblichen Würdigungen seines Lebens aus Archivalien dritter Hand. Keine neuen Erkenntnisse also, nirgends. Einen Monat später indes sorgt ein Interview, das Salingers Sohn Matthew, Jahrgang 1960, der britischen Zeitung „Guardian“ gab, für anhaltende Furore. Darin kündigt der Schauspieler („Captain America“) an, dass Werke aus dem von ihm betreuten Nachlass seines Vaters erscheinen werden, nicht jedoch vor dem Jahr 2029. Salinger hatte nach „The Catcher in the Rye“ noch einige Kurzgeschichten veröffentlicht, darunter „Franny“ und „Zooey“; nach Juni 1965, als die Erzählung „Hapworth 16, 1924“ erschien, publizierte er zwar nichts mehr, schrieb aber dem Vernehmen nach bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2010 in wechselnder Intensität weiter. „Er war jemand, der 50 Jahre geschrieben hat, ohne etwas zu veröffentlichen, daher ist das eine Menge Material“, sagte Matt Salinger dem „Guardian“. Zugleich trat er Berichten entgegen, wonach bis 2020 fünf neue Salinger-Titel veröffentlicht werden könnten. Das sei schon darum „völliger Blödsinn“, weil der Nachlass zu umfangreich und zu komplex sei, um dessen Publikation übers Knie zu brechen.
Nicht zum ersten Mal fallen Sorgfalt und Umsicht des Sohnes als Sachwalter seines berühmten Vaters auf: Im Unterschied zu seiner Schwester Margaret, die ebenfalls J. D. Salingers zweiter Ehe entstammt und die ihre – vorgeblichen – Kindheitserinnerungen anno 1999 in dem Buch „Dream Catcher“ bündelte, respektierte er die Privatsphäre seines Vaters. In einem Leserbrief an „The New York Observer“ warf er seiner Schwester vor, „Schauermärchen über unsere angebliche Kindheit“ zu verbreiten. Er indes gibt den gewissenhaften Archivar. Nicht von ungefähr sichtet er seit sechs Jahren gemeinsam mit Salingers Witwe Colleen O’Neill einen Nachlass, über dessen konkreten Inhalt er sich allerdings nur sibyllinisch äußert. Mag zwar sein, dass die nachgelassenen Texte weniger Sensationen bergen als von professionellen Exegeten erhofft. Und doch macht allein schon Salingers Abtauchen zu Lebzeiten neugierig auf sein Vermächtnis.
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