Herr Flömer, wann haben Sie zuletzt ein Selfie gemacht?
Florian Flömer: Am Wochenende, im Museum. Ich habe mir die „Ikonen“-Ausstellung in der Kunsthalle angesehen und mich vor einigen der Werke selbst fotografiert.
Und dann? Haben Sie die Fotos auf Facebook oder Instagram geteilt?
Nein, die habe ich nur an ein paar Leute verschickt, an enge Freunde und Verwandte. Ich nehme ohnehin wenig an den sozialen Netzwerken teil. Ich bin zwar überall registriert, aber eher Beobachter als aktiver Nutzer. Das hat sicherlich auch mit meinem Hintergrund zu tun. Ich bin da eher skeptisch.
Inwiefern?
Ich bin ein zurückhaltender Typ und zögere, mich in dieser Weise darzustellen. Was nicht heißt, dass ich es verwerflich finde, wenn andere das tun.
Die Sängerin Beyoncé hat 134 Millionen Abonnenten auf Instagram, ihr letztes Selfie wurde fast 4,5 Millionen mal gelikt – doppelt so oft wie zuvor gepostete Bilder von einem Fotoshooting. Wie erklären Sie sich das?
Selfies vermitteln uns das Gefühl, einen Einblick in das Privatleben anderer zu bekommen. Das stimmt natürlich nur sehr begrenzt, gerade bei Stars wie Beyoncé: Diese Bilder sind in hohem Maße inszeniert. Was wir sehen, sind keine Schnappschüsse, sondern bewusst gewählte Ausschnitte. Trotzdem haben wir den Eindruck, teilhaben zu können.
Es geht um Nähe?
Um vermeintliche Nähe, ja. Diese Bilder werden nicht von einem professionellen Fotografen gemacht, sondern von den Prominenten selbst. Es gibt keine zwischengeschaltete Instanz. Gleichzeitig erwecken sie den Anschein, spontan entstanden zu sein – obwohl sie das sicherlich in den seltensten Fällen sind.
Nun kannte man Beyoncé schon vorher, als Musikerin. Es gibt aber auch Menschen, die erst durch ihre Präsenz in den sozialen Medien bekannt geworden sind. Die deutschen Zwillinge Lisa und Lena etwa: Youtuberinnen, Instagram-Nutzerinnen, exzessive Selfie-Posterinnen – mit 15 Millionen Followern. Wundert Sie das?
Nein – aber auf Menschen, die diese Plattformen nicht derart selbstverständlich nutzen, wirkt das sicherlich erst mal komisch. Man fragt sich: Welche Eigenleistung bringen die eigentlich? Ich denke, die Frage ist falsch gestellt. Innerhalb der Kanäle selbst lässt sich eine wahnsinnige Aufmerksamkeit generieren. Menschen, von denen bis vor Kurzem noch niemand gehört hat, haben plötzlich mehrere Tausend Follower – weil sie ihr Leben für andere öffnen. Ich halte das gar nicht für etwas Schlechtes. Das sind neu entstandene Räume des Austauschs, die von jungen Menschen teils clever genutzt und geformt werden.
Ziel ist also nicht Selbstdarstellung, sondern Kommunikation?
Ja. Sicherlich geht es auch um Selbstinszenierung, aber nicht in erster Linie. Gerade jungen Menschen mit vielen Followern wird oft vorgeworfen, selbstfixiert und narzisstisch zu sein – und natürlich kann das zutreffen. Ich glaube aber, dass es vor allem darum geht, sich zu äußern, und zwar so schnell, spontan und unmittelbar, wie es vor wenigen Jahren noch undenkbar war.
Gehen wir da noch einmal einen Schritt zurück: Seit wann gibt es Selfies?
Seit etwa zehn Jahren. Anfang der 2010er-Jahre kamen Smartphones mit halbwegs guten Kameras auf den Markt, die Leute fingen an, ihren Alltag zu dokumentieren. Das ging natürlich auch schon vorher: Per Digitalkamera konnten Fotos gemacht, auf den Rechner geladen und per E-Mail verschickt werden. Das dauerte aber. Heute sind die Bilder in wenigen Sekunden online oder auf dem Smartphone eines Freundes. Selfies dienen kommunikativen Zwecken – weil sie sich immer, überall und sofort versenden lassen.
Es geht also nicht darum, sich selbst vor den Pyramiden von Gizeh für die Nachwelt festzuhalten, sondern andere wissen zu lassen: Guck mal, da bin ich?
Genau. Guck mal, da bin ich, im Urlaub in Ägypten oder im Museum, neben meinem Lieblingsgemälde von Francis Bacon. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich spricht von Status-Meldungen; man informiert andere über seinen Aufenthaltsort, seine Stimmung, seine Begleitung.
Ist aber nicht immer auch Ziel, eine Rückmeldung zu bekommen? Ein Like, ein Herz, einen Kommentar?
Natürlich – das ist Teil der Kommunikation.
Kann das Bedürfnis, Reaktionen hervorzurufen, zur Sucht werden?
Ich würde nicht unbedingt von Sucht sprechen – denn das würde pathologische Ausmaße unterstellen. Aber natürlich liegt nahe, dass die Möglichkeit, vergleichsweise leicht positive Rückmeldungen zu erhalten, dazu verleitet, immer mehr zu posten. Die Bestätigung anderer pusht uns, sie euphorisiert.
Dass der Mensch Selbstbildnisse macht, ist dabei nichts Neues...
Nein, die ersten Selbstporträts entstanden vor etwa 500 Jahren. 1433 malte Jan van Eyck das „Porträt des Mannes mit dem Turban“, das als Selbstbildnis angesehen werden kann. Albrecht Dürers „Selbstbildnis im Pelzrock“ stammt von 1500. Diese Gemälde wurden allerdings zu ganz anderen Zwecken angefertigt.
Nämlich?
Zum einen dienten sie dazu, Können zu demonstrieren. Der italienische Maler Francesco Mazzola hat sich 1523 oder 1524 vor einem gewölbten Spiegel gemalt – sicherlich auch, um zu zeigen, dass er imstande ist, eine so verzerrte Perspektive abzubilden. Vor allem aber ging es darum, etwas festzuhalten, das andernfalls nicht überliefert worden wäre. Die Bilder waren darauf angelegt, die Zeit zu überdauern.
Durch die Selfie-Massen von heute wird sich in 500 Jahren also eher kein Kunsthistoriker wühlen?
Das bezweifle ich allein deshalb, da die große Mehrheit der Selfies nirgendwo verwahrt werden wird. Selfies sind Bilder für den Augenblick, sie werden gemacht, verschickt, gepostet, wieder gelöscht. Man könnte sagen, Selfies haben eine extrem kurze Halbwertszeit.
Wären sie es denn wert? Oder anders gefragt: Sind Selfies Kunst?
Ich sehe das so: Ein Selfie an sich ist kein Kunstwerk, sondern erst einmal nicht mehr als ein Foto. Es hat gar nicht den Anspruch darauf, einen ästhetischen Wert zu haben. Es gibt aber durchaus Künstler, die das Medium für sich entdeckt haben und nutzen. Von Ai Weiwei etwa wurden im Sommer Selfies in der Kunstsammlung NRW präsentiert, die er als politische Botschaften verstanden hat. Sie zeigen, wie er durch das chinesische Regime unterdrückt wurde, wie die Polizei ihn behandelt hat. Cindy Sherman, die im vergangenen Jahr in der Weserburg ausgestellt hat, hat einen Instagram-Kanal, den sie mit Selfies bespielt. Als Kunstwissenschaftler finde ich das sehr spannend.
Weil da Populärkultur in die Kunst schwappt?
Ja – weil alltägliche Praktiken von Künstlern übernommen, abgewandelt und kreativ genutzt werden. Es macht Spaß, zu beobachten, was sich daraus ergibt.
Viele sagen: Die Selfie-Flut nervt. Ist ein Ende der Selfie-Ära in Sicht?
Nein. Allein schon, weil es immer neue Trends geben wird, neue App-Filter, neue beliebte Posen. Das Selfie wird bleiben.
Das Gespräch führte Katharina Frohne.
Florian Flömer (33) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstwissenschaft der Universität Bremen. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit der Rolle des Gesichts in der Kunst- und Bildwissenschaft.
Weitere Informationen
Am Donnerstag, 7. Nov., 18.30 Uhr, sprechen Frank Schmidt, Direktor der Museen Böttcherstraße, und Florian Flömer im Paula-Modersohn-Becker-Museum über „Selfies heute – Selbstporträts gestern?“. Nähere Informationen: www.museen-boettcherstrasse.de.