Als die 18-jährige Inge Katz im Sommer 1943 auf dem Steinboden ihres winzigen Zimmers im Konzentrationslager Theresienstadt kauert, denkt sie eines immer wieder: Ich habe einfach Glück. Immerhin: Sie atmet, lebt – und sie ist nicht allein. Ihre Eltern Marianne und Carl sind mit ihr im Lager, sind sogar in der gleichen Baracke untergebracht. Ja, denkt Inge, es hätte schlimmer kommen können. Sie alle hatten Glück gehabt. Großes Glück.
Es sind Szenen wie diese, die inneren Monologe einer unerschütterlichen Optimistin, die Elise Garibaldis Biografie „Rosen in einem verbotenen Garten“ so erschütternd, so ergreifend machen. Garibaldi ist Inge Katz' Enkelin, monatelang hat sie sich mit ihrer inzwischen 94-jährigen Großmutter zusammengesetzt und sich ihre Geschichte erzählen lassen.
Als Garibaldis biografische Erzählung einsetzt, ist Inge 14. Gemeinsam mit ihren Eltern, dem jüdischen Geschäftsmann Carl Katz und dessen Frau Marianne, lebt sie in der Isarstraße 33 in der Bremer Neustadt, einem zweistöckigen Haus mit weiß gerahmten Fenstern und Rosenbüschen im Vorgarten.
Es ist 1938, und Inge muss dabei zusehen, wie das Leben, das sie kennt, in sich zusammenfällt. Sie muss die Schule verlassen, in der sie, eines der wenigen jüdischen Kinder, immer mehr schikaniert wurde. Aus den Worten, die Garibaldi für das Schicksal ihrer Großmutter wählt, spricht kindliche Verwunderung. Inge beobachtet und versteht nicht; sie schämt sich und weiß nicht, wofür.
Als SA-Männer in der Nacht des 9. November das Haus der Familie Katz stürmen, brennen sich die Bilder der Zerstörung in Inges Gedächtnis: die zerschnittenen Fotos, die zertrümmerte Standuhr ihres Großvaters, das zertretene Porzellan auf dem roten Teppich, das dem 14-jährigen Mädchen erscheint „wie Schnee im November“.
Den Tag danach beschreibt Garibaldi als endgültigen Bruch im Leben der jungen Inge. Ihr Zuhause sei ihr immer eine Festung gewesen, ein Zufluchtsort inmitten des Terrors. Unbegreiflich sei es ihr erschienen, wie die Menschen am nächsten Tag zur Arbeit gehen konnten, als sei nichts passiert. Aus ihren Gedanken spricht Fassungslosigkeit: „Begreifen sie denn nicht, was vor sich geht?“
Umso berührender ist, wie Inge nicht anders kann, als weiterzumachen. Sie beginnt eine Schneiderlehre, verliebt sich in Stoffe und Schnittmuster. Mit ihrer Cousine Ruthie Cohen, ihrer besten Freundin und engsten Vertrauten, träumt sie von einer eigenen Modemarke, benannt nach ihrer beider Nachnamen: Katz & Co.
Es kommt anders: 1942 wird Familie Katz nach Theresienstadt deportiert, schon ein Jahr zuvor war Ruthies Familie ins Ghetto Minsk verschleppt worden. Die Angst, schreibt Garibaldi, wurde zum einzigen Gefühl; die Angst um die beste Freundin, die sie nie wieder sehen sollte, um ihre Familie, die Angst vor allem, was kommen könnte.
Trotzdem – es erscheint wie ein Wunder – gelingt es Inge, sich ihren Lebensmut zu bewahren. Sie sucht sich Arbeit im Lager, lebt von Tag zu Tag. Garibaldi erzählt die Geschichte ihrer Großmutter nicht als die eines Opfers, sondern einer Heldin. Einer jungen Frau, die sich traut, was töricht, aber notwendig erscheint: Hoffnung zu haben.
Doch Garibaldis Erzählung ist noch mehr: Sie ist die Liebesgeschichte ihrer Großeltern. Denn eines Tages trifft Inge auf Schmuel Berger, einen jungen Tschechen, der wie sie zu den Gefangenen zählt. Sie wehrt sich gegen die Verliebtheit, ein, wie ihr scheint, lächerlich banales Gefühl im Angesicht des Todes. Doch dann gibt sie nach, geht zögernd auf seine Avancen ein. Es beginnt eine vorsichtige, tastende Liebe zwischen Schichtende und Sperrstunde, die Inge daran erinnert, „wie schön es sein konnte, am Leben zu sein“.
Die Liebe, sie erscheint falsch an diesem furchtbaren Ort, und doch ist sie da, strahlend und wärmend. Zu ihrem 19. Geburtstag schenkt Berger ihr eine einzelne Ringelblume, die er mithilfe eines Freundes aus dem Lagergarten in sein Zimmer geschmuggelt hatte. Eine Geste, die ihn das Leben hätte kosten können. Was als zaghafte Verliebtheit beginnt, wird schnell zu einer tiefen Verbindung. Als Berger im Herbst 1944 erfährt, dass er nach Auschwitz gebracht werden soll, bricht Inge zusammen. Nur die Hoffnung darauf, ihn irgendwann wiederzusehen, lässt sie durchhalten. Zum Abschied überreicht er ihr eine weitere verbotene Blume: eine rote Rose.
Inge hatte Recht: Ihre Familie hat Glück. Im Mai 1945 wird das KZ Theresienstadt befreit, ihre Eltern und sie kehren nach Bremen zurück. Inge kann Berger nicht vergessen und sucht ihn jahrelang. Schließlich finden sie einander und heiraten, 1955 emigrieren sie nach New York. Als Berger 2006 stirbt, sind sie fast 60 Jahre verheiratet.
Im Epilog ihres Buches schreibt Elise Garibaldi, es sei ihr ein Anliegen gewesen, das Schicksal ihrer Großmutter, dieser „einzigartigen Frau“, für die Nachwelt zu bewahren. Man möchte ihr danken, dass sie es getan hat. „Rosen in einem verbotenen Garten“ ermöglicht, was nur gute Biografien können: eine Buchlänge an der Seite eines Menschen zu gehen. Es ist ein großes Glück, Inge Katz ein Stück begleiten zu dürfen.
Weitere Informationen
Am Mittwoch, 12. Dezember, stellen Elise Garibaldi und ihre Mutter, Inge Katz' Tochter Ruth Bahar, die Anfang Dezember erschienene Biografie „Rosen in einem verbotenen Garten“ um 18 Uhr in der Oberen Halle des Bremer Rathauses vor. Die Veranstaltung ist öffentlich, eine vorherige Anmeldung unter protokollabteilung@sk.bremen.de allerdings notwendig.
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