Das Wort zum Sonntag spricht der Wanderer und Dichter Robert Frost: „Im Wald zwei Wege boten sich mir dar, / und ich nahm den, der weniger betreten war. / Und dies änderte mein Leben.“ Was in dem Gedicht „Der nicht gegangene Weg“ (1916) zunächst nach einer unspektakulären Entscheidung an einer Abzweigung klingt, entpuppt sich als wegweisende Wahl, die in einen Alleingang mündet. Nicht von ungefähr echot in Frosts Versen ein Fetzen Dante: „Es war in unseres Lebensweges Mitte, / als ich mich fand in einem dunklen Walde, / denn abgeirrt war ich vom rechten Wege“, heißt es zu Beginn der „Göttlichen Komödie“.
Wer nicht wankelmütig, sondern willensstark auf den weitläufigen Wegen des Lebens wandeln will, wird an der Hochschule Kassel wirklichkeitsnah auf alle Wechselfälle des Wanderns vorbereitet: Promenadologie heißt die Disziplin, die Absolventen im Idealfall vor Augen führt, welche Königswege sie beschreiten sollten – und welche Umwege und Irrwege, Holzwege und Sackgassen tunlichst vermeiden. Das in der ohnehin kunstsinnigen documenta-Stadt gelehrte Fach wurde in den 80er-Jahren von dem Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt begründet. Sein akademisches Konzept fußt auf einer Methode, die auf eine erweiterte Wahrnehmung der Umwelt zielt.
Die Spaziergangswissenschaft, im Englischen unter dem Namen Strollology bekannt, ist im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung angesiedelt. Die Dozenten wie auch Vertreter ähnlich entspannter Fächer gehen davon aus, dass gemächliche Gangarten im urbanen Raum Erkenntnisse stiften und überdies Balsam für die Seele sind. Um diese Frohbotschaft zu vermitteln, ist ihnen jedes Performance-Mittel recht. So wurde in Kassel ein Spaziergang veranstaltet, bei dem die Teilnehmer – auf der Fahrbahn, wohlgemerkt – Windschutzscheiben vor sich her trugen. Die Aktion sollte zeigen, welche eingeengte Perspektive Autofahrer im Vergleich zu Fußgängern haben.
Durch Stuttgart spazierte indes Tina Saum vom „Labor für Gedanken & Gänge“ mit einer Schildkröte. Passanten durften dem geruhsamen Tier mit der Maßgabe folgen, dass es Tempo und Rastzeiten bestimmt. Langsame Bewegungen in einer hektischen Stadt seien subversiv, glaubt auch Elke Schmid, „Trainerin für die Kunst des Gehens“. „Von Autos lasse ich mich nicht gängeln", sagt meine Oma.
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