Reportage Warum Live-Rollenspiele gut für das Wohlbefinden sind

Mehrmals im Jahr reist Martin Wojahn ins Mittelalter – freiwillig. Sogenannte Larps sind für den 43-Jährigen eine wichtige Ablenkung von seinem schwierigen Alltag.
23.09.2019, 10:05 Uhr
Lesedauer: 8 Min
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Warum Live-Rollenspiele gut für das Wohlbefinden sind
Von Kim Torster

Torith stirbt. Einige Minuten sind bereits vergangen, seit sich der Pfeil in ihr Kettenhemd gebohrt hat. Mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Gliedern liegt die junge Frau auf dem Waldboden und atmet schwer. Etwa 300 Meter entfernt sitzt ein Mann unter einem Sonnensegel aus Stoff, als eine zweite Frau auf ihn zustürmt. Atemlos berichtet sie von Torith und dem Pfeil. Der Mann springt auf und rennt los.

Ein Sonnabend im Frühsommer. Auf einem Feuerwehrübungsplatz im Langendammer Wald in Nienburg wird an diesem Wochenende die Zeit zurückgedreht. Hier sieht fast alles so aus, wie man sich im Jahr 2019 das Mittelalter vorstellt: Weiße Stoffzelte stehen in Reihen vor der Waldgrenze im kniehohen Gras, davor Holztische und -stühle, die mit Fellen und Leinendecken bedeckt sind.

Etwa 600 Larps gibt es jährlich in Deutschland

Hier und da unterhalten sich die Menschen in kleinen Gruppen; sie tragen Wollkleider und Leinenhemden oder Rüstungen aus Leder oder Metall. Wiederum andere haben spitze Ohren oder Ruten – sie spielen Elfen und Wolfsmenschen. Fabelwesen und Magie sind hier nichts Besonderes. Auf dem Ancarea sind sie Alltag.

Das Ancarea ist ein sogenannter Larp. Larp, das steht für Live Action Role Playing – Abenteuer-Rollenspiele in Echtzeit. Über 600 solcher Veranstaltungen gibt es jährlich in Deutschland. Während eines Larps schlüpfen seine Teilnehmer in andere Rollen. Ihre Charaktere erschaffen sie selbst und je nach Umfeld: Larps können in unterschiedlichen Settings stattfinden. Einige spielen in der Zombie-Apoklypse, andere im wilden Westen. Der Klassiker aber ist der mittelalterlich anmutende Fantasy-Larp – wie das Ancarea in Nienburg, das zweimal im Jahr stattfindet.

Seit Mitte der 80er-Jahre nimmt Wojahn an Larps teil

Einer, der sich hier auskennt wie kein anderer, ist Ramon de Mar – jener Mann, der entspannt unter seinem Sonnensegel saß, als er von Toriths Verletzung erfuhr. Ramon ist Freibeuter, eine Art Pirat, aber mit Genehmigung des Königs. Meist schlendert Ramon von Zelt zu Zelt, von Händler zu Händler, macht Scherze und Geschäfte. Stets trägt er einen roten Piratenhut und ein weißes Leinenhemd mit ausladenden Ärmeln, die im Wind wehen, wenn Ramon die Arme vor dem Körper anwinkelt und die Hände zu lockeren Fäusten ballt. Das tut er oft, vor allem, wenn er fröhliche Anekdoten im Hamburger Dialekt erzählt.

Wie alle hier heißt Ramon eigentlich anders. Im wirklichen Leben – die Larper nennen es OT, das steht für „off time“, also: außerhalb der Zeit – ist er nicht Ramon de Mar, der Freibeuter, sondern Martin Wojahn, der Nähmaschinenmechaniker. Wojahn kommt zwar ursprünglich aus Hamburg, lebt aber schon einige Jahre in Bremerhaven – und spricht deshalb außerhalb seiner Rolle auch Hochdeutsch.

Seit Mitte der 80er-Jahre nimmt der 43-Jährige an Rollenspielen wie diesem teil, Ramon verkörpert er bereits seit 29 Jahren. Auch seine Freundin, die hier die Heilerin Johanna ist, lernte er bei einem Larp kennen. Gemeinsam fahren sie alle paar Wochen zu einer der Veranstaltungen.

„Das ist wie Urlaub von mir selbst“

Für Wojahn ist Ramon längst zu einem Teil seines Lebens geworden. Was für andere der jährliche Urlaub am Meer ist, sind für Wojahn seine Larps. Einmal, erzählt er, habe er zwei Wochen auf Mallorca verbracht. So glücklich wie ein Larp habe ihn das aber nicht gemacht. Hier, als Ramon, in der Natur, könne er so richtig abschalten. „Das“, sagt Wojahn, „ist wie Urlaub von mir selbst.“

Hört man sich auf einem Larp um, sind viele seiner Meinung. Wie Wojahn genießen die Teilnehmer das Umfeld: draußen, ohne Smartphone, ohne Zeitdruck. Aber auch die Möglichkeit, für wenige Stunden jemand ganz anderes sein zu können. Christian Kandler, Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Universität Bremen, bestätigt, dass Rollenspiele einen gewissen Entspannungseffekt haben können. Außerdem seien Fähigkeiten gefordert, die im Alltag oft vernachlässigt würden. „Durch den vielen Medienkonsum sind wir im Prinzip dauerhaft gesättigt, lassen uns nur noch berieseln“, sagt Kandler. Im Rollenwechsel aber werden unter anderem die Kreativität und die Produktivität gefordert. „In einer anderen Rolle muss ich mir ständig neu überlegen, wie ich agiere und reagiere“, sagt Kandler. Auch der Perspektivwechsel sei hin und wieder eine gute Sache – weil er erfordere, sich in eine andere Person einzufühlen.

Es gelten unausgesprochene Regeln

Dass Martin Wojahn tatsächlich ein fantasievoller Mensch ist, lässt sich an seiner Rolle des Ramon leicht erkennen. Ramon ist ein vielschichtiger und gut durchdachter Charakter, seine Geschichte ist bunt und facettenreich. Ramons Lieblingsbeschäftigung ist der Handel. Er ist bekannt dafür, dass er sein Gegenüber gerne über den Tisch zieht; ein echtes Schlitzohr. Andererseits ist er sehr hilfsbereit. Das beweisen unter anderen die unzähligen Ketten, die Ramon trägt. Er habe sie fast alle geschenkt bekommen, erzählt er. Als Dank für seine Dienste.

Und Ramon ist beliebt. Wenn er auf Expedition geht, dauert es nicht lange, bis sich ihm andere anschließen. Gerade ist er auf dem Weg in den Wald – dort gibt es immer wieder Dinge zu entdecken. Über die Wiese steuert er auf die Bäume zu. Ein paar Meter entfernt steht eine Gruppe, die plötzlich still wird und zu Ramon herüberschaut. Eilig setzt sie sich in Gang, um ihm zu folgen. „Wir kommen mit dir. Du entdeckst ja immer was!“, sagt eine junge Frau mit gelben Augen, Wolfsschwanz und spitzen Zähnen. Ramon kichert.

Es sind diese Momente, die Ramon und Wojahn gleichermaßen genießen. Das sagt er und das sieht man ihm an. Wojahn ist ein geselliger Mensch, ebenso wie seine Figur Ramon. Hier, beim Ancarea, wird regelmäßig gekämpft, aber im Grunde geht es vor allem um das Miteinander.

Das zeigt sich auch an der Mühe, die sich viele hier machen. Manche haben echte Stände aufgebaut, an denen sie Kekse, Schmuck, Kräuter oder Felle verkaufen. Ein Mann, der im OT-Leben Koch ist und hier einen Söldner spielt, baut gegen Abend reihenweise Kessel auf, in denen er Fleisch und Gemüse zubereitet. Später wird er alles sorgfältig auf einem langen Holztisch anrichten. Es dauert nicht lange, da sitzt auch Ramon mit an der Tafel. Er wurde eingeladen. „Ich liebe es, dass die Menschen hier so offen sind“, sagt er. Psychologe Kandler sagt: „Es gibt keine andere Freizeitbeschäftigung, die so wichtig für das Wohlbefinden ist, wie Interaktion mit anderen.“ Einfach das machen, worauf man gerade Lust hat, kann man aber trotzdem nicht. Vor allem, wenn es um die Kämpfe geht, gelten unausgesprochene Regeln. Als am Abend viele gerade dabei sind zu kochen oder zu essen, hört man plötzlich eine verfeindete Gruppe mit Schlachtrufen ins Lager stürmen. Wie selbstverständlich lassen die Teilnehmer ihr Essen stehen, legen ihre Rüstungen an und bringen sich in Stellung. Das Lager muss verteidigt werden.

Echte Schmerzen baut Wojahn ins Spiel ein

Gekämpft wird mit Latex-Schwertern und Pfeilen mit Gummi-Spitzen – wirklich verletzt wird hier niemand. Wer getroffen wird, muss aber so tun, als ob. Stöhnend und schreiend humpeln die Kämpfer zu ihren Lagern oder bleiben gleich am Boden liegen. Auch das gehört zum Larp. Psychologe Kandler sieht auch darin einen positiven Effekt: Im Job oder beim Einkaufen könne man ja nicht einfach anfangen zu schreien, im Rollenspiel aber sei genau das okay. „Das ist eine gute Möglichkeit, um mal die Sau rauszulassen.“ Die dauernde Improvisation, das vor- Schmerzen-Stöhnen und Sich-Winden – das ist ein Aspekt des Larps, der für Wojahn in den vergangenen Jahren sehr wichtig wurde. Denn der 43-Jährige ist chronisch krank, musste sogar seinen Beruf aufgeben. Wojahn leidet an einer grobmotorischen Dysfunktion. Er hat regelmäßig starke Schmerzen, die ihn in Schüben überkommen. Dann fängt er etwa an, unkontrolliert zu zittern. Wojahn sagt, im Alltag seien ihm diese sichtbaren Symptome unangenehm. Beim Larp aber kann er sie einfach ins Spiel einbauen. „Dann zaubere ich halt gerade oder wurde verletzt“, sagt er. Seit Wojahn krank ist, geht auch Ramon am Stock. Für seine Rolle hat Wojahn daraus einfach eine alte Kriegsverletzung gemacht.

Anerkennung von anderen Larpern bekommt, wer Schmerzen besonders echt aussehen lässt und so lange wie möglich ausspielt. So wie Wojahn. Nur mit dem Unterschied, dass seine Schmerzen echt sind. Viele hier wissen das nicht. Das sei eine gute Sache, sagt Wojahn. Denn Mitleid will er nicht. „Ich will einfach nur Spaß haben und die Krankheit für ein paar Stunden vergessen.“ Demnächst könnte auf ihn ein neuer Abschnitt zukommen. Ramon ist auf einem anderen Larp in Berührung mit einem verfluchten Gegenstand gekommen. Eigentlich ein Todesurteil. Jetzt liegt es an den Spielleitern: Entscheiden sie, dass Ramon nach 29 Jahren stirbt?

Der Tod ist beim Larp wie im echten Leben endgültig

Tatsächlich können Larp-Charaktere sterben, dann verschwinden sie unwiderruflich aus dem Spiel. Zum Beispiel, wenn sie nach einer Verletzung nicht behandelt werden. Wollen sie weiter dabei sein, müssen sie als neuer Charakter ein neues Larp-Leben beginnen. Manchmal werden Charaktere wieder zum Leben erweckt. Für Wojahn aber ist klar: Tot ist tot, ganz oder gar nicht. Leicht sei das trotzdem nicht. Mit Ramon könnte Wojahn ein Stück Lebensqualität verlieren. „Er wird mir schon fehlen“, sagt er.

Jetzt aber muss er erst mal Torith retten. Gerade noch rechtzeitig erreicht er sie. Bei ihm ist Johanna, die Heilerin. Sie kniet sich neben die Verletzte, um die Wunde mit Zaubersteinen zu versorgen, gleichzeitig murmelt sie etwas in einer fremden Sprache. Wenige Augenblicke später kann Torith aufstehen, ihre Freunde stützen sie. Sie sieht dermaßen erschöpft aus, dass eine zufällig vorbeikommende Joggerin erschrocken anhält. Sofort wird Ramon zu Wojahn, dreht sich um und schaltet von Hamburgisch auf Hochdeutsch. Er ruft: „Alles gut, das ist nur gespielt!“

Info

Zur Person

Kim Torster, 27, ist seit einem Jahr Volontärin beim WESER-KURIER. Für diesen Artikel hat sie zum ersten Mal an einem Larp teilgenommen – und wurde für zwei Tage zu Aya, der Geschichtenschreiberin. Ihr Lieblingsmoment: Beim Würfeln gegen eine Gruppe Ritter hat sie zehn Kupfermünzen gewonnen. Eine hat sie zum Andenken behalten.

Info

Zur Sache

Larps in Bremen und umzu

Larp steht für Live Action Role Playing (Live-Rollenspiele). Laut dem Deutschen Liverollenspiel-Verband (DLRV) finden Larps in Deutschland seit mehr als 20 Jahren statt. Zurzeit gibt es über 600 öffentliche Veranstaltungen jährlich. Wer selbst an einem Larp teilnehmen möchte, findet unter www.larp-kalender.net eine Übersicht der Veranstaltungen. Tipps bekommen Bremer Larp-Interessierte außerdem in der Facebook-Gruppe „Larper Bremen“.

Der nächste Teil der Serie „Spieltrieb“ erscheint am 5. Oktober. Darin geht es um eine neue Welt, die der technologische Fortschritt mit sich bringt: die Virtuelle Realität. Durch sie werden Videospiele auf ganz neue Art erlebbar.

Weitere Informationen

Serie „Spieltrieb“

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