Im vergangenen Jahr gab es in Bremen mehr Anzeigen wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Doch nur wenige Opfer gehen überhaupt zur Polizei, sagen die Mitarbeiter der Beratungsstellen.
Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Anzeigen wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung in Bremen gestiegen: von 81 auf 118. Wie viele Übergriffe es tatsächlich gegeben hat, darüber lasse sich aus diesem Ergebnis der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik jedoch wenig ableiten, sagt Psychologin Daniela Müller vom Notruf Bremen. Die Dunkelziffer bei diesen Straftaten sei enorm hoch. Laut Studien erstatteten Opfer nur in fünf Prozent der Fälle Anzeige.
Der Anstieg gegenüber dem Vorjahr könne durchaus mit einer höheren Sensibilität für das Thema zusammenhängen. „Das ist ein Phänomen, das sich über Jahrzehnte verfolgen lässt. Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit macht es den Betroffenen leichter, sich bei uns zu melden oder eine Anzeige zu stellen.“ Das zeige sich in der Beratungsstelle für Frauen und Männer ab 13 Jahren, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind.
Stärkere Sensibilität der Menschen
Die Polizei Bremen bewertet den Anstieg von fast 50 Prozent ähnlich. Das erhöhte Anzeigenaufkommen hinge mit einer stärkeren Sensibilität der Menschen zusammen. Das Thema sexuelle Belästigung sei in den Medien nach den Geschehnissen an Silvester in Köln und Hamburg 2015/2016 ständig präsent gewesen.
Die Entwicklung in Bremen sei auch darauf zurückzuführen, dass die Polizei vor Großveranstaltungen wie der Breminale oder dem Freimarkt Frauen und Mädchen gezielt aufgefordert habe, jeglichen sexuellen Übergriff sofort zu melden. „Das wurde offenbar angenommen. Wir haben den Eindruck, dass sich Frauen häufiger und schneller wehren als früher und Anzeige erstatten“, sagt Sprecher Nils Matthiesen.
Allein bei der Breminale gab es 2016 insgesamt 24 Anzeigen. Doch an den Fällen ändere die höhere Sensibilität nichts, sagt Psychologin Müller: „Die hohe Verbreitung sexualisierter Gewalt ist gleichbleibend hoch.“ Wenn das Thema wieder versande, werde das Schweigen der Opfer erneut größer. Viele Betroffene schafften es nicht, sich Hilfe zu holen.
Anonyme Spurensicherung als gutes Mittel
„Die Dunkelziffer bleibt dann auch bei uns dunkel.“ Andere kämen in die Beratung, aber schalteten keine Anzeige. Müller sieht die anonyme Spurensicherung als gutes Mittel, um Opfern den Schritt zur Anzeige leichter zu machen. Dabei können Beweise für die Tat, etwa die Untersuchung eines Arztes, in einer Klinik anonym gesichert werden. „So können die Opfer sich stabilisieren und eine Anzeige stellen, wenn sie sich stark genug dafür fühlen.“
Die Beweise könnten zu einer besseren Ausgangslage im Prozess führen: „Das kann das Zünglein an der Waage sein.“ Besonders für die Mehrheit der Opfer, die Gewalt von einem Täter im eigenen Umfeld erfahren musste, sei das wichtig. Denn sie entschieden sich oft spät für eine Anzeige.
Die Anzeigenbereitschaft sei in diesem Fall überhaupt niedriger, sagt Sandra Reith, Psychologin bei Schattenriss, der Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen. „Je dichter die Täter an den Opfern dran sind, desto unwahrscheinlicher ist eine Anzeige.“ Meist kenne das Opfer die Täter – aus der Familie, der Schule oder dem Stadtteil. Teilweise dauere es Jahre, bis es eine Anzeige gebe.
Anzeige ist eine hohe psychologische Belastung
Reith geht ebenfalls davon aus, dass die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Thema Auswirkung habe, ob jemand zur Polizei geht oder nicht. Doch die Dunkelziffer sei hoch. Es gebe Betroffene, die den Missbrauch ein Leben lang für sich behielten und sich erst im hohen Alter Hilfe suchten.
Für die Opfer sei die Anzeige eine hohe psychologische Belastung. Die Vorfälle zu beschreiben und womöglich auf den Täter zu treffen, das könne eine retraumatisierende Erfahrung für sie sein. Zugleich berücksichtigten sie auch, dass der Täter wieder zuschlagen könne: „Sie wollen nicht, dass er auch anderen etwas antut.“ Reith empfiehlt Opfern in jedem Fall eine Rechtsberatung vor der Anzeige, damit sie auf das, was passiert, vorbereitet seien.
Zu einer Verurteilung kommt es in Bremen laut einer im vergangenen Jahr veröffentlichen Studie nur in 3,9 Prozent der angezeigten Fälle. Richter müssten immer wieder Tatverdächtige freisprechen, wenn Aussage gegen Aussage stünde und es darüber hinaus keine Indizien gebe, sagt Psychologin Daniela Müller. „Das ist für die Opfer schwer zu ertragen.“ Doch es gelte eben: im Zweifel für den Angeklagten – trotz Glaubwürdigkeit des Opfers. Die Verhandlung sei für sie nicht leicht. „Manchmal werden sie von Strafverteidiger auseinandergenommen und sehr intime Fragen gestellt.“
Wachsendes Vertrauen in Behörden
Susanne Gieffers von der Bremischen Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau sieht dagegen eine Entwicklung. Die Diskussion um die geringe Verurteilungsquote in Bremen im vergangenen Jahr habe eine Verbesserung bei Polizei und Staatsanwaltschaft angestoßen. Das sei eine der Ursachen, warum sich mehr Frauen trauten, einen Übergriff anzuzeigen.
Auch das veränderte Sexualstrafrecht auf Bundesebene, die Verankerung von „Nein heißt Nein“, sei wichtig, so Gieffers: „Beides mag dazu beigetragen haben, dass betroffene Frauen etwas mehr Vertrauen in die Behörden und ins Rechtssystem gefasst haben.“ Die breite gesellschaftliche Debatte nach der Silvesternacht in Köln habe zu einem wachsenden Bewusstsein geführt, dass Frauen Übergriffe nicht hinnehmen müssten, sondern sich wehren könnten.
Die Polizei bezeichnet die Zahlen für 2016 im Vergleich der vergangenen zehn Jahre als unauffällig. Bei der großen Mehrheit der Fälle gehe es um Nötigungen. Die Botschaft sei jedoch klar, sagt Polizeisprecher Nils Matthiesen: Es besteht keine Veranlassung für junge Frauen in Bremen, sich bedroht zu fühlen. Nach Sandra Reith könnte das Hilfsangebot in Bremen für erwachsene Opfer mit enormen Folgestörungen noch größer sein. Daniela Müller widerspricht dem. Derzeit gebe es beim Notruf Bremen keine Warteliste. Doch ein anderes Problem belaste die Beratungsstelle: Für Opfer, die kein Deutsch sprechen, gebe es keine Dolmetscher.