Der Verein Mehr Demokratie hat die Ergebnisse der Bürgerschaftswahl 2019 analysiert. „Der Einfluss der Personenstimmen geht deutlich zurück“, sagte Vereinsgeschäftsführer Tim Weber bei der Vorstellung im Bürgerhaus Weserterrassen am Donnerstag. „Beim Vorschlag von Mehr Demokratie, bei dem die Personenstimmen den Ausschlag gegeben hätten, wäre der Einfluss der Personenstimmen gegenüber 2015 noch mal leicht gestiegen.“
Das Fazit steht ganz im Zeichen des Was-wäre-wenn-Vergleichs. Mit dem Vorschlag ist das gescheiterte Volksbegehren von Mehr Demokratie gemeint. Darin wurde gefordert, dass nur noch die direkt an die Kandidaten vergebenen Wählerstimmen über den Einzug in die Bürgerschaft entscheiden sollten.
Die Mandatszuteilung sollte so funktionieren, dass erst alle auf eine Parteienliste entfallenden Stimmen addiert und in gleichem Maß auf alle ihre Kandidaten verteilt werden sollten. Mit dem Volksbegehren hatte der Verein auf eine im Februar 2018 von der Bürgerschaft beschlossene Wahlrechtsänderung reagiert, die den Effekt hat, dass Kandidaten auf hinteren Listenplätzen es schwerer haben, mit den erlangten Personenstimmen ein Mandat zu erhalten.
Genau dies sei nun eingetreten: „Nur noch sieben Kandidierende schafften dank ihrer Personenstimmen den Sprung von einem hinteren Listenplatz nach vorne. 2015 waren es noch 22, nach dem Mehr-Demokratie-Vorschlag von 2018 wären es 25 gewesen.“ Als Beispiel führen Tim Weber und Katrin Tober, Vertrauensperson des Volksbegehrens „Mehr Demokratie beim Wählen“, den Bürgerschaftsabgeordneten (und ehemaligen Fraktionsvorsitzenden) der SPD, Björn Tschöpe, an. Der hatte auf dem sicheren zehnten Listenplatz mit 1344 Personenstimmen (0,75 Prozent) Einzug ins Parlament gehalten.
„Hätte er nicht vorne auf der Liste gestanden, wäre er nicht in der Bürgerschaft“, sagt Weber. Aber es gibt ein anschauliches Gegenbeispiel: Kai Wargalla, von den Grünen als 14. auf der Liste platziert, erhielt 4363 Personenstimmen (5,82 Prozent) und damit ein Mandat. Dass dieser Effekt „nicht im großen Stil“ eingetreten ist, räumt auch Andreas Klein ein. Der Direktor des Zentrums für Arbeit und Politik der Universität Bremen.
Er vermutet ohnehin, dass die Listenplatzierung überschätzt werde. „Carsten Sieling zum Beispiel wäre auch gewählt worden, wenn er weiter hinten auf der Liste gestanden hätte, weil er bekannt ist.“ Letztlich sei die Gestaltung des Wahlzettels „ein organisatorisches Thema“, sagt der Politikwissenschaftler. „Ob Hoch- oder Querformat, irgendwer steht immer oben.“
Aus der Sicht von Mehr Demokratie aber hat der Bürgerschaftsbeschluss von Anfang 2018 „das Wahlrecht nachhaltig beschädigt“. Katrin Tober erläutert das so: „Die Parteien haben eigene Machtinteressen durchgesetzt, ohne bestehende Probleme zu lösen. Jetzt hat die Wahl bestätigt, dass die angeführten Gründe nicht überzeugen.“
Demnach werden junge Kandidaten durch die Wahlrechtsänderung weder bevorteilt noch benachteiligt. „Der Anteil der Frauen ist gegenüber 2015 wieder gestiegen. Beim Vorschlag von Mehr Demokratie wäre eine Frau weniger in der Bürgerschaft vertreten.“ Der Anteil der Bürgerschaftsabgeordneten mit Migrationshintergrund in der Bremischen Bürgerschaft lag nach der Wahl 2015 bei 18,1 Prozent und erreicht aktuell 10,7 Prozent. Dem Vorschlag von Mehr Demokratie zufolge läge der Anteil bei 23,8 Prozent, sagt Tim Weber. „Ansonsten sind die Unterschiede zwischen der aktuellen Regelung und dem Mehr-Demokratie-Vorschlag gering.“
Was den Verein besonders stört, ist das Personenstimmenparadoxon – das Phänomen des negativen Stimmengewichts, das im Fall der Bremerhavener SPD-Kandidatin Petra Jäschke (Listenplatz vier) die Wahl vereitelte: Hätten die Wähler nicht sie persönlich, sondern die Liste angekreuzt, wäre sie in die Bürgerschaft eingezogen. Nach Einschätzung von Andreas Klee „wäre die Wahrscheinlichkeit, dass das auftritt, früher größer gewesen“.
Politische Debatte ums Wahlrecht
Evelyn Temme, Leiterin der Geschäftsstelle beim Landeswahlleiter, bestätigt das: Die Umkehrung des Zuteilungsverfahrens, wie es in den Jahren 2011 und 2015 noch zur Geltung kam, als erst Listen- und dann Personenmandate vergeben worden seien, „reduziert die Wahrscheinlichkeit des negativen Stimmgewichts“.
Die politische Debatte ums Wahlrecht nach dem Scheitern des Volksbegehrens sei zwar „augenscheinlich beendet“, sagt Tim Weber. „Aber wir denken schon“, ergänzt Katrin Tober, „dass die Parteien sich das noch mal angucken sollten, ob die Reform gerechtfertigt war.“
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