Es ist der 3. April 2013, als das Leben von Barbara und Henrik Wentzel und ihren drei Kindern auf einen Schlag eine andere Wendung nimmt. Eine, mit der niemand rechnet. Nicht jetzt, nicht mitten im Leben. „Wir waren nicht vorbereitet, wie auch. Vor allem nicht darauf, wie dieser Tag im April unser Leben aus den Angeln heben sollte“, sagt die 53-Jährige.
Bis zu diesem Morgen führt die Familie rückblickend ein Leben wie aus dem Bilderbuch. Höhen und auch Tiefen, aber alles im normalen Rahmen. Normalität sollte ab diesem Morgen aber nicht mehr der Rahmen sein, in dem es sich bewegt. Barbara und Henrik Wentzel haben sich in Paris kennen gelernt. Sie ist in Wien geboren und wächst in der französischen Hauptstadt auf.
Dort arbeitet sie im internationalen Marketing. Er kommt aus Bremen und arbeitet bei einer deutschen Bank in Paris. Gemeinsam zieht das Paar nach Hamburg und gründet eine Familie. De beiden haben eine Tochter und zwei Söhne. Beide machen Karriere, sie im Marketing, er als Finanzvorstand in mehreren Reedereien. Tolle Jobs, tolle Kinder.
Ein dumpfer Knall am Morgen
Es geht ihnen gut, sehr gut. Wirtschaftlich und sozial. Sie haben viele Freunde, auch aus Bremen. Frühere Freunde, mit denen Henrik Wentzel das Hermann-Böse-Gymnasium besucht hat. Freunde, mit denen er die Leidenschaft für Werder Bremen teilt. Auch und gerade in Hamburg. Henrik Wentzel ist ein Alpha-Tier. Einer, der es gewohnt ist, der Boss zu sein.
Und: „Henrik ist in vielerlei Hinsicht der Typ Mann, den sich Mütter für ihre Töchter wünschen: erfolgreich, intelligent, verantwortungsvoll, witzig. Er segelt, joggt, fährt Rennrad, was man halt so macht, wenn man voll im Saft steht und es wissen will. Immer. Er kann nicht anders. Immer hundert Prozent“, sagt Barbara Wentzel.
Ein dumpfer Knall im Badezimmer an diesem Morgen im April vor fast fünf Jahren ändert alles. Es ist 7.10 Uhr. Die Familie macht sich für Arbeit und Schule fertig. Es ist ein Morgen wie jeder andere. Ein wenig hektisch, ein wenig chaotisch, aber perfekt eingespielt. Die Kinder witzeln, ob „Papi“ in der Dusche umgefallen ist und rufen ihm zu, ob sie ihm zu seinem Geburtstag in fünf Tagen einen dieser hübschen rutschfesten Gummiduschteppiche schenken sollen.
Eine Antwort aus dem Badezimmer bekommen sie nicht. Barbara Wentzel sieht nach: „Henrik liegt in der Badewanne, regungs- und hilflos, das Gesicht schief, als hätte es jemand aus den Angeln gehoben. Heißes Wasser läuft ihm über den Kopf, hinter dem Dampf- und Wasserschleier ein leerer Blick.“ Henrik Wentzel hat einen Schlaganfall erlitten. Er ist 56 Jahre alt.
Alles geht ganz schnell: Der Notarztwagen kommt, er bringt ihn in die Stroke Unit, eine Spezialabteilung für Schlaganfall-Patienten im Krankenhaus Altona. „Ich habe damals überhaupt nicht verstanden, was da passiert ist und was das bedeutet“, erzählt Barbara Wentzel.
„Einen Schlaganfall kannte ich nur von meiner Großmutter, und die ist danach wieder genesen. Und sie war ja viel älter als Henrik. Insofern war das für mich überhaupt kein Thema, dass man davon so schwere Folgen haben könnte. Ich bin davon ausgegangen, dass er nach ein paar Tagen aus dem Krankenhaus kommt und schnell wieder alles beim Alten ist. Immerhin hatte er gerade seinen Job als Finanzvorstand aufgegeben und wollte sich mit neuen Geschäftsideen selbstständig machen. Er wollte es noch einmal wissen – mit all seiner Energie.“ Hundert Prozent eben.
"Mein Mann hat die Kontrolle über seine Gefühle verloren"
Es kommt anders. Es gibt Komplikationen und weitere Operationen. Henrik Wentzel überlebt den Schlaganfall, aber er ist nicht mehr der Alte. Nicht nur, dass der Schlaganfall seine rechte Hirnhälfte größtenteils zerstört und damit die rechte Körperhälfte lahmgelegt hat. Das Blutgerinnsel in seinem Kopf hat auch sein Wesen verändert.
„Ischämie im MCA-Gebiet“ nennen die Ärzte die Zerstörungen im Gehirn. Für Barbara Wentzel bedeutet das: „Mein Mann hat die Kontrolle über seine Gefühle verloren. Empathie und Realitätssinn sind seitdem sehr dehnbare Begriffe. Die rechte Hirnhälfte ist zuständig für unsere Emotionen, für die Einordnung von Raum, Zeit und Wissen in die Norm, für unser Sozialverhalten und für Empathie. Das ist bei Henrik verloren gegangen.“
Henrik Wentzel sagt, was er denkt – schonungslos für die anderen, ehrlich und völlig in Ordnung für ihn. Er weiß nicht, was er mit seiner direkten und eben schonungslos ehrlichen Art auslöst, weil der Filter dafür bei ihm verloren gegangen ist. Barbara Wentzel erzählt ein Beispiel: „Da gab es eine Pflegerin, Henrik fand, dass sie wie ein Frettchen aussieht. Und das hat er ihr auch gesagt. Im Normalfall würde man solche Dinge nicht sagen. Er kann sich aber nicht in andere Menschen, in ihre Gefühle, in die Norm hineinversetzen. Er fand den Vergleich mit dem Frettchen witzig und hat über seinen Witz gelacht.“
Barbara Wentzel ist davon nicht ausgenommen. Innerhalb kürzester Zeit mutiert sie für ihn von „Schatzi“ zum „Miststück“. Weil er der Ansicht ist, dass seine Frau grundsätzlich schuld an seinem Schlaganfall ist und dass wahrscheinlich jeder Mann, der über 20 Jahre mit ihr verheiratet wäre, einen Schlaganfall gehabt hätte. Und überhaupt ziehe er eigentlich Blondinen vor.
Barbara Wentzel weiß, dass der Schlaganfall der Grund dafür ist. „Henrik hat immer mehr das ganze Ausmaß seiner Erkrankung realisiert. Und insofern hat er die ganze Wut, das ganze Unfassbare an seiner Situation auch an mich gerichtet.“ Für alle möglichen Dinge: die defekte Fernbedienung, das klemmende Bettgitter, Baumängel an der Elbphilharmonie.
Barbara Wentzel ist das nächste Ventil, so, wie es die Angehörigen bei Persönlichkeitsveränderungen nach einem Schlaganfall oftmals sind. „Wenn man so viel verloren hat und von dem eigenen Leben weg ist, überwiegt das alles andere. Und das kann man eigentlich verstehen. Auch wenn es nicht immer ganz leicht ist, das anzunehmen und damit zu leben.“
Ein Buch, um den Angehörigen Mut zu machen
Rund 200.000 Menschen erleiden jedes Jahr in Deutschland einen Schlaganfall. Was danach kommt, ist sehr unterschiedlich. Manche genesen vollständig, andere werden pflegebedürftig. Sie sind beeinträchtigt, teilweise so schwer, dass sie rund um die Uhr Pflege oder Unterstützung benötigen. Und nicht immer sind es alte Menschen, die der Schlag von jetzt auf gleich in ein anderes Leben katapultiert.
In ein Leben, auf dessen neue Herausforderungen sie nicht vorbereitet sind. So, wie auch Henrik Wentzel und seine Familie. Barbara Wentzel hat gemeinsam mit der Autorin Miriam Collée ein Buch geschrieben. Sie will anderen Angehörigen Mut machen. Die 53-Jährige erzählt sehr offen und einfühlsam, teilweise auch auf sehr amüsante Weise, wie sich das Leben der Familie nach dem Schlaganfall völlig verändert hat.
Und es gibt Passagen, in denen Henrik Wentzel seine Sicht der Dinge beschreibt. Das Buch soll aber auch Kritik an einem Pflegesystem sein, „das nicht im entferntesten das abbildet, was die Realität von Betroffenen und Angehörigen ist und was wirklich gebraucht wird“, sagt Barbara Wentzel. Wie wenig das System an diese Realität angepasst ist, erlebt die Familie acht Monate nach dem Schlaganfall.
Es ist kurz vor Weihnachten und Henrik Wentzel soll aus der Reha endlich wieder nach Hause kommen: Dafür braucht er einen Rollstuhl, einen Treppenlift und ein Pflegebett. „Allerdings, und das ist der Irrsinn, können diese essenziellen Hilfsmittel erst genehmigt werden, wenn es ein Pflegegutachten gab. Dieses Gutachten kann aber erst erfolgen, wenn der Pflegebedürftige zu Hause ist, um an Ort und Stelle seine Pflegebedürftigkeit begutachten zu können.“
Sechs Monate vor der Entlassung hat Barbara Wentzel dieses Gutachten beantragt. Kurz bevor ihr Mann nach Hause entlassen werden soll, erfährt sie, dass sechs Monate viel zu früh sind – der Antrag somit abgelaufen ist und sie einen neuen stellen muss. Ein Eilantrag mit Hilfe einer Ärztin aus der Reha-Klinik ist schließlich die Rettung.
Am 23. Dezember kommt Henrik Wentzel erstmals nach seinem Schlaganfall nach Hause – und mit ihm der Pflegegutachter. Und der Treppenlift, der Rollstuhl und ein Pflegebett. In ähnlich irrwitzigem Tempo, mit viel Improvisation, Geduld, Nerven und auch Tränen geht es weiter. Immer wieder müssen Anträge gestellt werden, alle drei Monate kommen Pflegegutachter, um die Pflegebedürftigkeit neu einzustufen.
Ein Pflegeheim kommt nicht in Frage
Die Familie braucht eine 24-Stunden-Pflege, damit Henrik Wentzel zu Hause bleiben kann. Er ist nicht bettlägerig, er sitzt im Rollstuhl. Er muss zu Therapien, braucht Hilfe beim Essen, Ankleiden und Waschen. Barbara Wentzel verdient jetzt allein den Lebensunterhalt für die Familie, tagsüber hat sie einen Full-Time-Job im Büro, davor und danach zu Hause.
Und sie macht schnell die Erfahrung: „Wer eine Rund-um-die-Uhr-Pflege in den eigenen vier Wänden sucht, landet früher oder später immer in Polen. Das liegt daran, dass die wenigsten deutschen Pflegedienste eine 24-Stunden-Betreuung anbieten. Und wenn sie es tun, dann zu astronomischen Preisen. Die Stiftung Warentest hat errechnet, dass eine deutsche Rund-um-die-Uhr-Pflege circa 10.000 Euro pro Monat kostet. Kein Wunder, dass die meisten die Abkürzung über Osteuropa nehmen.“ So wie Henrik und Barbara Wentzel bis heute.
Ein Pflegeheim kommt für Barbara Wentzel nicht in Frage. Das will sie ihrem Mann nicht antun. Sie hat sich Einrichtungen angesehen, auch solche für „jüngere“ Patienten. Was sie sieht, bringt sie zum Weinen: Der Altersdurchschnitt der Bewohner liegt meist um die 80 Jahre, die Wohngruppen sind meist an Pflegeheime für Senioren angegliedert.
Ein "Haus für morgen"
Trotz allem: Henrik Wentzel ist noch völlig vital. Und er macht durch die hochfrequenten Therapien einen Fortschritt nach dem anderen. „Das funktioniert, aber es ist nicht optimal und auf Dauer weder mach- noch finanzierbar. Es ist nicht das Umfeld und die Förderung, die Menschen wie Henrik mit erworbenen Beeinträchtigungen – und zwar in jüngeren Jahren – brauchen.“
Barbara Wentzel und ihr Mann haben eine Vision – ein „Haus für morgen“. So heißt der Verein, den Barbara Wentzel gemeinsam mit Familie, Freunden und Unterstützern gegründet hat. Das Haus für morgen e. V. (www.haus.fuer.morgen.com) soll Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen eine Rückkehr ins Leben ermöglichen. Es soll bestmögliche Betreuung mit einer Atmosphäre verbinden, die dem Gefühl von zu Hause so nahe wie möglich kommt. Und es soll hauptsächlich jüngeren Patienten offenstehen.
Nicht nur Lebensstätte
„Es geht um Würde. Diese Menschen haben noch so unglaublich viel. Wir haben aber immer die Tendenz, auf den Verlust zu schauen. Und wenn man das, was diese Menschen noch haben, aktivieren und sie in eine Autonomie zurückführen könnte – das wäre unglaublich toll“, beschreibt Barbara Wentzel. Das Haus für morgen soll nicht nur Lebensstätte für die Bewohner sein, es soll ein Ort sein, an dem Fremde, Freunde und Familie zusammenkommen und sich engagieren können.
„Mein Traum wäre, dass jemand eine geeignete Immobilie in Hamburg oder zwischen Bremen und Hamburg hat und sie für das Projekt zur Verfügung stellen will.“ Die Idee ist ihr im vergangenen Sommer gekommen. Als ihr Mann gemeinsam mit einem Freund und einem Pfleger aus Polen mehrere Wochen in einem Ferienhaus an der Schlei verbracht hat. „Diese Wohngemeinschaft hat ihn so glücklich gemacht, wie schon lange nicht mehr. Es war Henriks schönster Sommer seit dem Schlaganfall.“