Schlussakkord in Moll Plattenladen Ear im Bremer Viertel schließt

Mit dem Plattenladen Ear schließt eine Institution im Bremer Viertel. Das macht zahlreiche Musiker, Radiomoderatoren, Veranstalter und DJs traurig.
17.01.2019, 05:00 Uhr
Lesedauer: 4 Min
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Plattenladen Ear im Bremer Viertel schließt
Von Pascal Faltermann

Der Plattenspieler dreht sich. Die Nadel fährt durch die Rillen des Vinyls. Es riecht nach Papier, Pappe und Platten. Über die Lautsprecher dudeln französische Chansons, es wird diskutiert, aus den Kopfhörern ist leise ein Indie-Song zu hören. Die Kunden blättern durch die Cover in den Kästen, ein Gast bringt dem Verkäufer einen Kaffee mit. An dem Regal mit den Neuerscheinungen und vorm Plattenspieler zum Anhören der Scheiben warten die Musikliebhaber, bis ihr Vorgänger fertig ist.

Wenn jemand Neues hereinkommt, durchdringt dieses wabernde Musik-Stimmen-Gewirr ein lautes „Moin“. Man kennt sich. Man mag sich. So geht es normalerweise zu im Schallplattenladen Ear, vor dem Steintor 104. An diesem Sonnabend ist damit Schluss. Das Musikgeschäft schließt und damit eine Institution im Bremer Viertel. Unter Musikern, Radiomoderatoren, Veranstaltern und DJs ist die Trauer über das Ende groß. Die letzte verkaufte Platte wird eine melancholische sein. Ein Schlussakkord in Moll.

"Ich möchte genau jetzt mehr Zeit haben"

Ear hat eine lange Geschichte. Im Jahr 1972 eröffnete der mittlerweile verstorbene Bernd Link das Musikgeschäft zuerst am Dobben. Es folgten zwei Läden im Steintor nur einen Steinwurf voneinander entfernt, am Dobben 82, der andere vor dem Steintor 36. Später sogar noch ein Weiterer. Der jetzige Betreiber, den alle nur unter dem Namen Bunny kennen, fing 1994 bei Ear Records an. Damals war noch die CD das Musikmedium der Stunde, die LP fast vergessen. 2007 übernahm Bunny den Laden und in den hinteren Teil zog der „Boombastic Sound Recordshop“ von Jan Wölffel ein, der früher bei „Titus“ im Ostertorsteinweg Hip-Hop, Reggae und Drum ’n’ Bass für DJs verkauft hatte.

Damit ist nun Schluss. „Ich möchte genau jetzt mehr Zeit haben und nicht erst, wenn ich Rentner bin und mich nicht mehr bewegen kann“, sagt Bunny. Tolle Erlebnisse habe es jeden Tag gegeben, da möchte er nichts hervorheben. Genervt habe ihn der Onlinehandel, weil der die Preise kaputtmache. Die Jugend von heute höre anders Musik und die Plattenfirmen hätten keinen Bock mehr auf den stationären Handel. Hinzu komme, dass viele Vertriebe sparen und deshalb häufig Veröffentlichungstermine nicht einhalten würden. „Der Berg des Vinylbooms ist überschritten“, meint Bunny. Der Umsatz 2018 sei erstmalig zurückgegangen, das erinnere ihn alles sehr an die Zeit der Digitalisierung, die die Vertriebe und Firmen auch verschlafen hätten. „Aber egal, ich gehe mit einem guten Gefühl und es war eine schöne Zeit“, sagt Bunny.

Für den TV- und Radiomoderator Arnd Zeigler war Ear ein wichtiger Fixpunkt, seit er 15 Jahre alt war. Damals wohnte Zeigler noch in Kirchweyhe. „Wenn ich sonnabends zu Werder-Heimspielen fuhr, gehörte es immer dazu, eine Stunde zum Stöbern bei Ear Schallplatten einzuplanen“, sagt Zeigler. Was Plattenläden anging, war Bremens Innenstadt damals, Anfang der 1980er Jahre, noch reich gesegnet. Es gab Govi, JPC, Montanus, später Barlage und Tukan, „aber die Jungs bei Ear waren die Kompetentesten von allen“ – wegen ihrer Empfehlungen und dem „sehr seltenen, spannenden Zeug“ in den Second-Hand-Regalen. In den vergangenen Jahren starben mit Bernd Link, Arne Jung und Sean-Patric Braun gleich „drei meiner Lieblings-Ear-Verkäufer, alle sehr plötzlich“, sagt Zeigler. „Am letzten Tag werde ich noch einmal bei Ear einkaufen gehen. Dann schließt sich ein Kreis. Ach Mann, ich bin echt traurig.“

Auch Fernando Guerrero, Betreiber der Kultkneipe Eisen, hat schon als Teenager seine ersten Platten bei Ear gekauft, später auch mal selber dort gearbeitet. „Als ich jung war, waren die Plattenverkäufer dort musikkulturelle Halbgötter und ihr kritisches Mustern der Platten, die ich dort kaufte, löste in mir stets weiche Knie aus“, erinnert sich Guerrero. „Speziell in der Jugend gibt Musik den in uns lodernden Emotionen einen Rahmen und setzt Orientierungspunkte im Labyrinth der Selbstfindung.“ Man kaufe im Plattenladen eben nicht einfach nur eine Platte, so wie man Brot beim Bäcker kaufe. „Plattenläden sind genauso wie gute Cafés und Clubs unendlich wichtige soziale Räume. Das werden die Menschen wohl erst begreifen, wenn es keine mehr gibt“, sagt Guerrero.

Sprungbrett zu Bremen Vier

Für regionale Konzertveranstalter war Ear viel mehr als nur Kartenvorverkaufsstelle, sagt Malte Prieser, Geschäftsführer vom Kulturbüro Bremen-Nord. Das Team habe Käufer und Kunden überhaupt erst darauf aufmerksam gemacht, welche musikalischen Schätze sich nicht nur in den Plattenregalen, sondern auch in den Clubs der Stadt finden lassen. "Das tut kein Streamingdienst dieser Welt.“

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Marco Goerlich, Sänger der Band Stun, ist zu Ear gegangen, ohne vorher irgendwelche Musikmagazine gelesen zu haben. „Wenn Bunny mir eine Platte empfohlen hat, dann lag er damit selten falsch, denn er wusste von seinen Stammkunden meist weit mehr als nur ihren Musikgeschmack.“ Häufig habe er auf einen Talk mit Bunny warten müssen, weil der Barhocker vor dem Verkaufstresen bereits belegt war. „Unter 45 Minuten bin ich selten aus dem Laden gekommen, aber ich möchte keine Sekunde missen. Ich werde Ear schmerzlich vermissen“, sagt er.

Auch Radiomoderator und Musikexperte Peter Spalek bedauert das Aus der Institution im Viertel. „Als ich bei Ear gearbeitet habe, am Dobben und gegenüber vom Bellini, war der Laden sozialer Treffpunkt und natürlich Quelle für neue musikalische Anregungen.“ Im Prinzip sei der Laden auch sein Sprungbrett zu Bremen Vier gewesen. „Ich werde traurig sein, wenn ich an dem leeren Laden oder später an einem Handyshop, Friseur oder Burgerladen vorbeifahre…“

Weitere Informationen

Die erste Platte, das Gespräch am Tresen oder schöne Erinnerungen. Erzählen Sie uns, was Sie mit dem Plattenladen Ear verbinden. Per E-Mail an lokales@weser-kurier.de mit dem Betreff „Ear“, dem vollen Namen und Stadtteil.

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