Die Mittelschicht ist geschrumpft. 14 Prozent innerhalb von zwölf Jahren, von 64 auf 50 Prozent. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie der Arbeitnehmerkammer, die die Entwicklung der Haushaltseinkommen aus dem Jahr 2000 und 2012 miteinander verglichen hat.
Demnach liegt nur noch bei jedem Zweiten das verfügbare Einkommen, also Nettolohn plus weitere Einkünfte, zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Bremer Einkommens. „Armut und Abstieg sind keine Randphänomene mehr“, sagt Hauptgeschäftsführer Ingo Schierenbeck, der die Ergebnisse als „dramatisch“ einstuft.
Um nach Definition der Arbeitnehmerkammer zur Mittelschicht zu gehören, muss etwa eine vierköpfige Familie zwischen 2100 und 4515 Euro monatlich zur Verfügung haben. Doch genau das ist immer seltener der Fall, sagt Elke Heyduck. „Familien rutschen zunehmend aus der Mittelschicht“, betont die Leiterin der Politikberatung der Arbeitnehmerkammer. Zählten vor 15 Jahren noch 67 Prozent der Paare mit Kindern dazu, waren es im Vergleichsjahr 2012 nur noch 54 Prozent. Dabei ist die Zahl der staatlichen Leistungen in dem Zeitraum gestiegen: Kindergeld und Freibeträge wurden erhöht, das Elterngeld eingeführt. „Die politischen Erwartungen, dadurch gerade Haushalte mit Kindern finanziell zu stabilisieren, haben sich nicht erfüllt.“
Die Reichen werden reicher - aber nicht mehr
Die Gesellschaft driftet also weiter auseinander. Das ist auch ein bundesweit zu beobachtender Trend: Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer und die Lücke dazwischen immer größer. Doch in Bremen gestaltet sich die Situation laut Arbeitnehmerkammer noch etwas anders: „In der einkommensstarken Schicht gab es lediglich einen Zuwachs von zwei Prozentpunkten“, sagt Schierenbeck. „Die Menschen aus der Mittelschicht rutschen also eher in die einkommensschwache oder armutsgefährdete Schicht ab, als dass sie aufsteigen.“
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Als arm gilt nach Definition der Kammer, wer unter 60 Prozent des mittleren Bremer Einkommens, als einkommensstark beziehungsweise reich jeder, der mehr als 150 respektive 200 Prozent dieses Satzes zur Verfügung hat. Ein Single mit einem Einkommen zwischen 1003 und 2150 Euro monatlich zählt zur Mittelschicht.
Die Gründe für den Zerfall der Mittelschicht sind vielfältig. Die Arbeitnehmerkammer sieht eine wesentliche Ursache in der Höhe der Einkommen. So haben zwar in allen Einkommensgruppen Zuwächse stattgefunden – aber bei den kleinsten Haushaltseinkommen waren sie deutlich niedriger als bei den höchsten. „Die Reichen sind also reicher, aber nicht mehr geworden“, sagt Heyduck. „Die Zahl der Einkommensschwachen ist hingegen angestiegen, ihre Einkommen jedoch kaum.“ Das Phänomen hängt mit diversen Entwicklungen zusammen: So ist etwa die Zahl der Teilzeitstellen um 49 Prozent angestiegen; und das verarbeitende Gewerbe, das mit 26 Prozent den größten Anteil an der Mittelschicht hat, hat 14 Prozent der Stellen abgebaut. Im schlechter entlohnten Dienstleistungssektor hingegen ist die Zahl der Arbeitsplätze um 13 Prozent angestiegen, gleichzeitig hat sich die Mittelschicht in diesem Bereich um 13 Prozent reduziert.
"Eine wichtige Säule der Gesellschaft bröselt"
Beim Wirtschaftssenator ist die Situation erkannt. „Speziell in den Bereichen Einzelhandel sowie im Hotel- und Gaststättengewerbe wollen wir uns im Rahmen von Branchendialogen für eine Verbesserung der Situation der Beschäftigten starkmachen“, sagt Sprecher Holger Bruns. Auch die zunehmende Tarifflucht der Unternehmen, die für geringere Einkommen sorgt, ist Thema. „Wir setzen uns für die Ausweitung der Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen ein.“
Zudem wolle man dem Problem der wachsenden armen und einkommensschwachen Unterschicht vor allem durch eine Verbesserung der Qualifikation von jungen Menschen und Langzeitarbeitslosen begegnen. Die Studie der Arbeitnehmerkammer hatte festgestellt, dass fast zwei Drittel aller Bremer, die in einem Haushalt mit einem niedrig qualifizierten „Haushaltsvorstand“ leben, mit einem prekären Einkommen auskommen müssen.
André Heinemann vom Institut Arbeit und Wirtschaft der Uni Bremen beobachtet die Entwicklung bereits seit Jahren. „Eine wichtige Säule der Gesellschaft bröselt an den Rändern“, sagt er. Für die Fiskalpolitik könnte das zum Problem werden. „Ein Gros der Steuerlast wird von der Mittelschicht gestemmt.“ Deswegen müsse man eine verbesserte Einkommenssituation anpeilen. „Über eine andere Verteilung der Steuerlast könnte man die Situation stabilisieren“, betont Heinemann. Es benötige dafür ein umfassendes Konzept, aber im Wesentlichen würde es darauf hinauslaufen, dass Löhne angehoben werden. „Wenn der Spitzensteuersatz zudem erst bei höheren Einkommen einsetzt als derzeit, und dieser dazu angehoben wird, könnte man die Mittelschicht entlasten.“
Die Arbeitnehmerkammer spricht sich ebenfalls für höhere Einkommen aus – durch mehr Vollzeitbeschäftigung. Laut Studie lebten lediglich elf Prozent der Vollzeittätigen mit prekärem Einkommen. Schierenbeck: „Damit stellt Vollzeiterwerbstätigkeit einen sehr zuverlässigen Schutz gegen das Abrutschen aus der Mittelschicht dar.“ Allerdings ging die Zahl der Vollzeitstellen zwischen 2000 und 2012 um sechs Prozent zurück.