Egal, ob es ums Autofahren, Fleisch essen oder um Migration geht: Bei kontroversen Fragen kann es anstrengend sein, mit jemandem zu diskutieren, der oder die komplett anderer Ansicht ist. Weil man sich auf Neues einlassen muss, weil die eigene Sichtweise hinterfragt wird und vor allem, weil man sich manchmal eingestehen muss, doch nicht so viel über ein Thema zu wissen, wie man angenommen hat. Netter und bequemer scheint es, wenn das Gegenüber sagt: „Das sehe ich genauso.“
Oder? Ein Gespräch, das mit „Nein, das sehe ich anders“ beginnt, bringt nämlich neue Erkenntnisse, Einsichten und Denkanstöße. War meine Ansicht wirklich richtig? Habe ich einen Aspekt zu wenig bedacht? Warum genau bleibe ich bei meiner Überzeugung?
Genau deshalb will die Aktion „Deutschland spricht“, an der der WESER-KURIER in diesem Jahr erstmals teilnimmt, zwei Menschen mit gegensätzlicher Meinung zusammenbringen. Sie können sich treffen und austauschen. Sie müssen sich danach nie wieder sehen, sie können das Gespräch sogar abbrechen. Sie können aber auch stundenlang schnacken oder Freunde werden – es gibt keine Vorgaben. Wer mitmachen möchte, kann sich von diesem Donnerstag, 15. August, an auf www.weser-kurier.de anmelden.
„Mal mit jemandem zu sprechen, der ganz anderer Meinung als man selbst ist, sich also einzulassen auf eine ungewohnte Sichtweise: Das ist der Kern dieser Aktion, an der sich der WESER-KURIER sehr bewusst beteiligt“, sagt Chefredakteur Moritz Döbler. „Wir sehen es als unsere Aufgabe an, den Diskurs über relevante Themen voranzubringen. Als Redaktion sind wir dabei politisch unabhängig und offen, selbst wenn natürlich jeder und jede Einzelne von uns eine Haltung hat. Miteinander zu sprechen, statt übereinander zu schimpfen, hilft immer.“

Ins Leben gerufen hat die Aktion die Redaktion „Zeit Online“ vor der Bundestagswahl im Jahr 2017. Der Eindruck der Initiatoren war: Die Deutschen sprechen nicht mehr miteinander, es gibt abgespaltene Sphären. Stadt und Land, alt und jung, politisch links und politisch rechts: Begegnungen werden in Zeiten von Social Media immer seltener. Algorithmen zeigen Nutzern nur noch das an, was ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit gefällt. Das Resultat: Viele Menschen leben in einer Filterblase. Sie lesen das, was ihre eigene Meinung bestärkt. Sie haben ausschließlich Kontakt zu Menschen, denen sie ähnlich sind.
Im Netz führt das oft so weit, dass beschimpft oder bedroht wird, wer anderer Meinung ist. Der Fall des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, nach dessen Tod viel über vorangegangene Drohungen und Hetze gegen ihn diskutiert wurde, macht das deutlich. Wohin gesellschaftliche Gräben führen können, zeigen auch die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und der Brexit. Die einen finden Trump und den Brexit prima, die anderen sind fassungslos. „Deutschland spricht“ soll ein Versuch sein, Menschen in den Dialog zu bringen.
Mit Erfolg. Das Konzept wurde von ausländischen Redaktionen aufgegriffen, etwa in Österreich, Italien, Dänemark, Großbritannien und der Schweiz, und 2018 mit dem „Grimme Online Award“ ausgezeichnet. Die Jury befand: „Ein Journalismus, der so der Polarisierung entgegenwirkt und den gegenseitigen Respekt politischer Gegner voranbringt, dient nach Ansicht der Jury im besten Sinne der Demokratie: Nicht nur durch die klassischen Aufgaben von Information, Kritik und Kontrolle, sondern durch die Bereitstellung einer exemplarischen Plattform für einen offenen, zivilgesellschaftlichen Diskurs.“
In diesem Jahr nehmen Medien aus ganz Deutschland teil: Neben dem WESER-KURIER sind das „Die Zeit“, „Zeit Online“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Berliner Zeitung“, „Sächsische Zeitung“, das Magazin „Chrismon“ und das Portal „Evangelisch.de“.
Wie Sie bei "Deutschland spricht" mitmachen können
Und so funktioniert das Ganze: Bei der Registrierung müssen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sieben Fragen beantworten. Diese sind: Sollten Flugreisen stärker besteuert werden? Kümmert sich Deutschland zu wenig um die Ostdeutschen? Leben die Alten in Deutschland auf Kosten der Jungen? Sollte Deutschland engere Beziehungen zu Russland anstreben? Haben Frauen in Deutschland die gleichen Chancen wie Männer? Sollte der Staat stärker in den Immobilienmarkt eingreifen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen? Und: Ist Deutschland durch Einwanderung unsicherer geworden?
Die Anmeldephase endet Mitte Oktober. Dann ermittelt ein Algorithmus möglichst viele, möglichst unterschiedliche Paare, die nicht zu weit voneinander entfernt wohnen. Die Diskussionspartner erhalten eine E-Mail mit einer kurzen Vorstellung ihres ermittelten Gegenparts. Beide müssen das vorgeschlagene Treffen bestätigen, erst danach können sich die Teilnehmer zu einem Gespräch verabreden. 4235 Paare haben sich 2018 über „Deutschland spricht“ gefunden.
Einige der Treffen werden vom WESER-KURIER und den anderen teilnehmenden Medien begleitet. Das bedeutet, dass Journalisten bei den Gesprächen dabei sind. Sie halten sich dabei jedoch zurück, beobachten den Verlauf der Diskussion. Es geht dabei um die Frage, was passiert, wenn sich Menschen unterhalten, die sich nicht kennen, aber die sich sicher sein können, bei heiklen politischen Themen grundsätzlich anderer Meinung zu sein. Wer nicht möchte, dass über das Gespräch berichtet wird, kann die Anfrage ablehnen.
Wenn möglich, sollen die Treffen am 30. Oktober stattfinden. An diesem Tag wird es zudem Veranstaltungen in der Frankfurter Paulskirche und in der Frauenkirche in Dresden geben, zu denen die Gesprächs-Duos eingeladen werden (solange es freie Plätze gibt).
Sich mit jemandem zu treffen, den oder die man vorher nicht kennt, kostet Überwindung. Doch genau darum geht es auch bei „Deutschland spricht“: den ersten Schritt zu wagen.
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