Schulleiter Hans Biegert war genervt vom herkömmlichen Schulsystem. Deshalb gründete er 1978 in Bonn die Hebo-Privatschule. Dort sucht er sich das Lehrpersonal aus, dem er zutraut, auch auffällige Schüler zu unterrichten. Im Gespräch mit Barbara Wenke erläutert der Schulleiter seine Ideen zu einem adäquaten Umgang mit ADHS-Kindern, warum Lehrer Verbündete der Schüler sein müssen und warum das Medikament Ritalin kein Allheilmittel ist.
Herr Biegert, Sie leiten seit 35 Jahren die Hebo-Privatschule in Bonn. Was ist das Besondere an Ihrer Schule?
Hans Biegert: Ich hab die Schule gegründet, weil es mir fürchterlich auf den Nerv gegangen ist, dass relativ viele Schüler auf der Strecke blieben, von denen man nicht sagen kann, sie hätten eine Mangelbegabung oder einen geringen Intelligenzquotienten. Einige dieser Kinder und Jugendlichen muss man an die Hand nehmen und das Lernen genau strukturieren. Andere brauchen positive Rückmeldungen, beispielsweise Smileys am Rand oder ein „Hast du gut gemacht“.
Laut Homepage Ihrer Schule sind rund 60 Prozent Ihrer Schüler vom Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, kurz ADHS, betroffen. Wie schaffen Sie es, diese Klassen zu unterrichten?
ADHS ist ja nicht gleich ADHS. Es gibt drei Auffälligkeitsschwerpunkte: Aufmerksamkeitsdefizit, Zappeligkeit, und Impulsivität. Wir haben uns gesagt, wenn wir uns mit diesen Kindern beschäftigen, dann brauchen wir kleine Klassen. In einer kleinen Gruppe haben die Lehrer permanent alle Kinder im Auge. Wichtig dabei: Blickkontakt und das non-verbale Lenken – mal zwei Schritte auf den Schüler zugehen, mal die Hand auf die Schulter legen –, ohne in der Klasse zu diskutieren. Dafür müssen wir natürlich Lehrer haben, denen dieses außergewöhnliche Verhalten nicht ständig auf die Nerven geht.
Woran erkenne ich denn, dass es sich um Kinder mit ADHS handelt und nicht um mutwillige Störenfriede?
(Hans Biegert lacht) Ob ich einen vor mir habe, der bewusst stört, weil er sich in der Gruppe hervortun will, oder ob es um Schülerinnen und Schüler geht, die ihr Temperament nicht zügeln können, ist von der pädagogischen Relevanz sekundär. Pädagogisch stellt sich nur die Frage: Was muss ich tun, damit ich beide auf die grüne Welle im Unterricht kriege? Es ist sowohl in dem einen als auch in dem anderen Fall nicht damit geholfen, dass ich das Kind ständig ermahne. Ich tue gut daran, Kindern das Gefühl zu vermitteln: Ich akzeptiere dich so wie du bist. Kinder brauchen einen Verbündeten – und das ist der Lehrer, der sich ohne Vorbehalte auf das Kind einstellt.
Gibt es unabhängig von der emotionalen Schiene etwas, was die Schulen tun können, um es Kindern mit ADHS leichter zu machen?
Natürlich. Die Lehrer müssen wenige, aber eindeutige Regeln aufstellen. Regeln helfen, eine Situation zu strukturieren. Die Lehrer müssen aber auch konsequent auf die Regeleinhaltung achten. Zudem muss ein ADHS-Kind im Antennenbereich des Lehrers sitzen. Nur so ist das niederschwellige Intervenieren möglich. Von absolut zentraler Bedeutung ist ein positives Feedback. Verhaltensänderung kommt durch positive Verstärkung. Das Thema ADHS ist wegen der Inklusion gerade hochaktuell. Denn diese Schüler mit expansivem, zum Teil oppositionellem Verhalten sind die Nagelprobe der Inklusion. Gerade in Grundschulen, wo die Inklusion schon viel mehr ein Thema ist als in den weiterführenden Schulen, sagen die Lehrer ganz klar: Der gemeinsame Unterricht mit Schülerinnen und Schülern, die Problemverhaltensweisen haben, macht uns große Schwierigkeiten. Die Lehrerinnen und Lehrer sind nicht darauf vorbereitet.
ADHS kommt einem mittlerweile wie eine Modeerscheinung vor. Wie stellt man ADHS eigentlich fest?
Das Problem bei psychischen Störungen liegt darin, dass sie nicht diagnostizierbar sind – im Sinne von, ich nehme mal Blut ab und lass die Antikörper durchzählen. Bei einer Störung auf der Verhaltensebene muss ich erst einmal das entsprechende Verhalten analysieren. Da gibt es standardisierte Fragebögen zu den Themenkomplexen Aufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität. Man gibt Fragebögen an die Eltern, Geschwister, Lehrer, Erzieher sowie optimalerweise auch an den Trainer am Nachmittag. Wenn sich daraus ein einheitliches Bild ergibt, dann bekommt dieses Kind das ,Label’ ADHS.
Wodurch entsteht ADHS? Werde ich damit geboren oder kann ich die Störung auch entwickeln?
Das ADHS-Gehirn ist genetisch so dispositioniert, dass es sehr sensibel auf aufmerksamkeitsdefizitäre Situationen reagiert. Ob die genetische Disposition zum Tragen kommt, hängt davon ab, wie die äußeren Rahmenbedingungen sind. Das bedeutet, dass der Sozialisation im Elternhaus, im Kindergarten, in den Schulen eine erhöhte Bedeutung zukommt. Mit Lern- oder Unterrichtssituationen, in denen ein hohes Maß an Selbstregulation verlangt wird, ist dieses Gehirn schnell überfordert.
Haben Sie noch konkrete Tipps für Eltern an der Hand?
Ganz klar, wie in der Schule: Klare Regeln festlegen. Das Entscheidende ist, festgelegte Regeln dann verbindlich umsetzen. Wir raten den Eltern auch, Computer- und Fernsehzeiten von dem abhängig zu machen, was gut klappt.
Wie stehen Sie zur medikamentösen Behandlung von Kindern mit ADHS?
Ritalin macht aus dem ADHS-Kind kein Nicht-ADHS-Kind. Es öffnet ein Zeitfenster, in dem das Gehirn des ADHS-Kindes so arbeiten kann, wie andere Gehirne auch. Das heißt: Wenn das Kind jetzt keine positiven Lernerfahrungen macht, keine Erfahrungen im Hinblick auf Selbststrukturierung oder darauf, eine bessere Impulskontrolle zu erwerben, dann nützt auch das Ritalin nichts. Von dem Medikament geht zwar die Zappelei zurück, aber Ritalin alleine genügt definitiv nicht.
Haben Sie Kinder begleitet, die ohne Ritalin ihr Verhalten geändert haben?
Absolut. Es gibt viele ADHSler, die mit 14, 15 Jahren sagen, ich will das Medikament nicht mehr. Sie fühlen sich ja nicht krank. Das ist eine Chance. Wir erleben immer wieder, wenn ein Mensch mit ADHS etwas will, dann schafft er das auch.
Zur Person:
Hans Biegert ist 64 Jahre alt. Der Professor ist der Leiter der Hebo-Privatschule in Bonn, die er1978 gründete. Mit seiner Schule wurde er im vergangenen Jahr mit dem ADHS-Förderpreis des ADHS-Bundeskongresses ausgezeichnet. Neben seiner Arbeit an der Schule ist Hans Biegert am Querenburg-Institut in Bochum zuständig für die Lehrerfortbildung im Bereich Kinder mit ADHS. Darüber hinaus ist er an der Universität in Chemnitz in der psychologischen Fakultät zuständig für den Studiengang integrative Lerntherapie.
ADHS-Stammtisch Lemwerder lädt zum Vortrag
n Kinder
, die bei geringen Schwierigkeiten zu Hause mit den Türen knallen, die in der Schule sprichwörtlich über die Tische gehen, mit dem Stuhl kippeln und mit ihren Gedanken ganz woanders sind – es gibt sie zuhauf. Viele dieser Auffälligkeiten sind Folge eines Funktionsdefizits im Gehirn der betroffenen Jungen und Mädchen. Die Fachwelt nennt sie Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS).
Der ADHS-Stammtisch Lemwerder lädt Eltern, Lehrer, Erzieher und alle anderen, die „wirksame pädagogische Hilfen im Umgang mit ADHS-Kindern“ erhalten möchten, zu einem Vortragsnachmittag mit Hans Biegert ein. Am Sonnabend, 16. November, wird Hans Biegert von 14 bis 17.30 Uhr in der Milchbar der Ernst-Rodiek-Halle sein Konzept erläutern. Anmeldungen sind unter adhs-stammtisch-lemwerder@arcor.de erforderlich. Die Teilnahme kostet fünf Euro pro Person. Da die Teilnehmerzahl begrenzt ist, zählt die Reihenfolge der Anmeldung und Überweisung. Weitere Auskünfte erteilt der ADHS-Stammtisch unter der Telefonnummer 0421/678450.
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