Sozialwissenschaftler warnen davor, dass Menschen ohne soziale Kontakte in der Corona-Krise wie eine Primel eingehen könnten. Das gelte nicht nur für Alte und Pflegebedürftige, sondern auch für Suchtkranke. Womöglich ohne Familie in den eigenen vier Wänden mit Existenzängsten und depressiven Gedanken auf sich allein gestellt zu sein, sei ein gravierendes Problem, sagen Suchtexperten. „Die Krise wirkt da wie ein Brennglas, das bereits vorhandene Probleme vergrößert“, sagt Martin Lison, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Bremen-Ost.
Da bleibe es nicht aus, dass es gerade bei Alkoholkranken vermehrt zu Rückfällen komme, bestätigt Anneke Imhoff vom Netzwerk Selbsthilfe Bremen. Wer ein gutes Netz sozialer Kontakte wie Familie und einen größeren Freundeskreis habe, der habe die Chance, vergleichsweise gut durch die Krise zu kommen, so der Chefarzt. „Die Leidtragenden sind immer die Schwachen“, sagt er.
Da auch im Berufsleben soziale Kontakte geknüpft werden, biete auch der Arbeitsalltag eine gewisse Struktur und Stabilität, soLison. Deshalb sei etwa Kurzarbeit ein Problem, gerade für Menschen, die ohnehin an der Schwelle zur Abhängigkeit stünden und jetzt mehr als sonst schon trinken würden. Lison rät, sich in solchen Fällen so früh wie möglich bei einer der vielen Beratungsstellen Rat und psychologische Hilfe zu holen.
Um das Abdriften in ein Suchtverhalten zu vermeiden, könne unter anderem mit der Aktivierung von Ressourcen gearbeitet werden, beispielsweise Hobbys, die zuletzt vernachlässigt wurden. Lison: „Es gilt herauszufinden, was dem Einzelnen individuell Kraft gibt, das kann Gärtnern, Kochen, die Bewegung in der Natur oder die Beschäftigung mit Musik sein. Nicht umsonst sind in der Krise so viele Puzzles und Brettspiele verkauft worden“.
Präsenz-Treffen zeitweise ausgesetzt
Um Suchtkranke kümmert sich unter anderem das Netzwerk Selbsthilfe Bremen in der Faulenstraße 31. Die Präsenz-Treffen der Selbsthilfegruppe mussten während des Shutdowns zwischen Mitte März und Mitte Juni ausgesetzt werden. Ein ähnliches Szenario gab es in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie bei der Entgiftungsbehandlung. Im Schnitt habe es aber seit Beginn der Pandemie nicht mehr Einweisungen gegeben, resümiert Lison.
Wesentlich schlechter sehe die Situation dagegen bei Sucht-Reha-Kliniken aus. Coronabedingt käme es dort zu deutlich längeren Wartezeiten. Anneke Imhoff und ihr Team vom Netzwerk Selbsthilfe Bremen sind froh, dass der regelmäßige Treffpunkt seit knapp vier Monaten für bis zu zehn Personen wieder geöffnet hat.
Sorgen bereiten ihr allerdings die rasant ansteigenden Corona-Infektionszahlen. Dass Bremen als Risikogebiet eingestuft ist, schwebe wie ein Damoklesschwert nicht nur über Wirtschaft und Kultur, sondern auch über dem Netzwerk Selbsthilfe. Die Furcht vor weiteren Kontaktbeschränkungen sei groß. Erschwerend komme hinzu, dass nicht alle Selbsthilfegruppen, die über Bremen verstreut und im Netzwerk organisiert seien, Räume hätten, die groß genug sind, um ein Treffen mehrerer Personen auf Abstand zu ermöglichen.
„Den persönlichen Kontakt zu befreundeten Betroffenen aus der Selbsthilfegruppe und den direkten Austausch mit ihnen können Telefon- und Video-Konferenzen nicht ersetzen“, sagt Anneke Imhoff. Das gelte auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Selbsthilfegruppen sind ein zentrales Element
Martin Lison betont, dass Selbsthilfegruppen den Betroffenen eine Struktur gäben. Gerade um die Abstinenz-Phasen zu verlängern, seien sie ein zentrales Element. Entfielen diese Angebote, steige automatisch die Rückfallquote.
Laut Imhoff kommt ein weiteres Problem hinzu: Nicht alle Betroffenen besäßen die technische Ausstattung wie Smartphones oder Laptops. Und eine weitere Hemmschwelle sei, dass viele der Betroffenen Probleme mit dem Datenschutz befürchteten, schildert sie. In der Zeit des Shutdowns habe man aber notgedrungen auf diese virtuellen Alternativen bei den Beratungen zurückgreifen müssen.