Reinhard Fischer schreit nicht, er stöhnt nicht einmal. Er ist mucksmäuschenstill, minutenlang. Steht einfach nur da, die Hände in die Hüfte gestemmt, und blickt in diesen riesigen Kasten, der vor ihm steht. Er presst die Lippen aufeinander, sein Oberkörper bebt, man sieht ihm das Herz förmlich bis zum Halse schlagen. Knapp 1000 Kilometer ist er gefahren, mit dem Lkw nach Mainz und zurück, um diesen Kasten zum Haus der Wissenschaft in der Sandstraße zu bringen. Dort soll am Donnerstag die Ausstellung „Krimi – Faszination Kristallographie“ eröffnen. Dass sich die Vorbereitung tatsächlich zum Krimi entwickeln würde – das hätte er nicht zu denken gewagt.
35 Minuten zuvor: Reinhard Fischer springt leichten Fußes aus dem Lkw, mit dem er gerade in der Sandstraße zum Stehen gekommen ist. Die Rampe fährt herunter und gibt den Blick frei auf den Innenraum – nichts. Nichts, bis auf eine Kiste ganz hinten in der Ecke und einige wenige Kartons. Alles ist festgezurrt mit Gurten, die Kiste selbst noch einmal an Holzlatten verschraubt. Der Akkubohrer summt und dreht eine Schraube nach der anderen heraus, die Verschlüsse der Gurte fallen klackernd zu Boden, und dann rattern die Rollen des Hubwagens über das Kopfsteinpflaster.
Schon in Mainz war der Abtransport des 1,20 Meter hohen Amethysten ein öffentlichkeitswirksamer Akt. Das Fernsehen war da, die Presse auch. Es kommt nicht oft vor, dass das 528 Kilo schwere Exemplar das Institut für Mineralstoffe verlässt. Genau genommen ist es erst das zweite Mal – und die Mainzer, deren Heimat in der Szene der Kristallographen auch gerne als „Hauptstadt der Edelsteine“ bezeichnet wird, entsprechend besorgt um dieses in seiner Form einzigartigen Objekts. Der Amethyst erinnert optisch an einen Hasen: außen spitze Ohren und eine kantige Schnute, unter dem Kopf ein Körper wie der eines hockenden Karnickels, alles von außen in grauem Stein. Innen ein Meer aus kleinen lila Spitzen, die funkeln und leuchten, wenn das Licht sie trifft.
Sechs Mann schieben nun vorsichtig die Kiste Richtung Eingang, doch: Sie passt nicht durch die Tür. Also wird der Kasten aufgeschraubt, und Fischer nimmt vorsichtig die vordere Holzplatte ab. Styroporplatten rutschen ihm entgegen, er nimmt sie und bringt sie weg. „Da fehlt doch ein Ohr“, sagt einer der Schaulustigen, im Spaß natürlich. Fischer lacht, kommt zurück, blickt genau hin. „Da stimmt was nicht“, murmelt er plötzlich und legt den Finger auf seine Lippen. Dann greift er in die Kiste, nimmt einen faustgroßen Stein heraus. „Das darf nicht wahr sein“, sagt er.
Faustgroß sind normalerweise auch die Amethysten, die Edelsteinsucher in Brasilien finden. Selten ist das Mineral dort nicht. Über Händler ist der Amethyst nach Mainz gekommen, und dort hat Fischer ihn gesehen, war gleich begeistert von diesem Unikat. Der Kristallograph, der an der Uni Bremen im Fachbereich Geowissenschaften lehrt und gerade an einer Ausstellung arbeitet, fragte, ob er sich den Osterhasen ausleihen darf. Er durfte.
Doch jetzt, am späten Montagmittag vor dem Haus der Wissenschaft, ist diese Begeisterung verflogen. Fischer steht dort wie ein Häufchen Elend, fassungslos. Er holt noch ein paar Brocken heraus, schüttelt den Kopf. „Ist abgebrochen“, sagt er nur, hebt dann einen Teil der Druse heraus, hält sie im Arm wie ein Kind, bettet sie schließlich vorsichtig auf einer der Styroporplatten. Vier Mann nehmen den oberen Teil der Kiste ab. Der Sockel ist 1,10 Meter breit, die Tür – das haben sie gerade noch einmal ausgemessen – misst 1,11 Meter. Glück gehabt.
Mit dem Hubwagen ziehen sie den Amethyst langsam ins Haus der Wissenschaft, Millimeterarbeit. Aber es klappt. Der Hase steht sicher im Foyer, neben ihm liegt sein Ohr, und davor steht Fischer, der sein Unglück noch gar nicht fassen kann. Zahlt die Versicherung? „Es gibt keinen Wiederbeschaffungswert, der Wert ist nicht zu beziffern denke ich“, sagt er. Man müsse jetzt mit Spezialisten sprechen, die vielleicht auch die Schuldfrage klären können: Verpackt wurde das Objekt von den Mainzern, und das Ohr anscheinend nicht angemessen gestützt. Gefahren ist aber Fischer, und „die Erschütterungen, die können’s gewesen sein.“
Vielleicht kann die Stelle sogar geklebt werden. Bis dahin fehlt dem Hasen mit der kantigen Schnute und den Hunderten violetten Glitzerbergen im Bauch erst einmal sein rechtes Ohr. Der Osterhase bleibt vorerst ein Einohrhase.
Die Ausstellung „Krimi – Faszination Kristallographie“ wird am 2. Juli um 17 Uhr im Haus der Wissenschaft eröffnet. Bis 12. September sind Kristalle aus der Natur, High-Tech-Exponate und Untersuchungsgeräte zu sehen.