Bremen. Als er sechs war, bekam Paul Kienast zum Geburtstag eine Playstation geschenkt. Zwölf Jahre später steht der Abiturient aus Bremen-Farge in der „Bolzerei“ in der Überseestadt, jener allerneuesten – um es neudeutsch zu sagen: location in town mit dem Werder-Stempel drauf. Am Vormittag wurde das Bolzerei-Projekt in der großen Halle mit den vielen kleinen Kunstrasenfeldern eingeweiht, am Nachmittag folge ein erstes, auch neudeutsch gesagt: Event. Ein Scouting-Turnier für Werders neue eAcademy.
Paul Kienast sagt, dass er Gamer ist, einer, der vor der Konsole sitzt und virtuell Fußball spielt. Fünf- bis zehnmal die Woche spiele er mit seinem Kumpel Lukas das Fifa-Spiel, am Wochenende in der Fifa Weekend League. Sein Berufswunsch? Na ja, vielleicht mal was in diesem E-Sport-Bereich, sagt Paul Kienast. Eher im Management oder Marketing, eher nicht als professioneller Gamer. Da gebe es Leute, die talentierter seien und viel intensiver trainieren würden. In dem Bolzerei-Turnier kommt er bis ins Viertelfinale.
16 Bildschirme hat Werder auf dem Kunstrasenfeld aufgestellt, das in der Bolzerei unter dem Namen „Plaza Pizarro“ firmiert. 14- bis 18 Jährige, die nicht weiter weg wohnen als 100 Kilometer von Bremen entfernt, konnten sich bewerben für dieses erste von drei Scouting-Turnieren. 180 Teenager hatten sich beworben, 70 sind schließlich in der Bolzerei dabei. Das zweite Turnier soll in Oldenburg stattfinden, für das dritte steht der Ort noch nicht fest. Pro Turnier schaffen es vier Jugendliche ins Finale Ende April im Weserstadion: die jeweils drei Erstplatzierten sowie ein vierter, dessen Auftreten gefiel und der eine Wildcard erhält.
Wie im realen Leben
Nach dem Finale mit dann zwölf Fifa-Talenten soll eine Jury zwei bis vier Spieler auswählen, die in die eAcademy aufgenommen werden. Dafür wurde im Weserstadion extra eine sogenannte Gaming Arena eingerichtet. Dass der Raum gleich gegenüber der Spielerloge liegt, also der Loge für die realen Fußballspieler, habe aber keine strategischen, nur bauliche Gründe sagt Dominik Kupilas. Er ist sozusagen Werders Mann für E-Sport. „Leiter Content & Digital“ lautet der offizielle Titel.
Eine eAcademy. Für die Frage, warum so etwas denn nun auch noch sein muss, gibt es quasi eine Antwort mit dem höchsten Wahrscheinlichkeitsfaktor: wahrscheinlich ja. Werder, als Wirtschaftsunternehmen gedacht, kann beziehungsweise will es sich nicht leisten, Branchentrends zu missachten und potentielle Kunden links liegen zu lassen. Werder will die Klientel an der Konsole erreichen, ansprechen, binden. Sie besteht zu einem großen Teil aus jungen Leuten, und Dominik Kupilas sagt: „Es ist ein Kommunikationselement in Richtung Jugend.“ Das wäre praktisch der eine Motivationsstrang für das neueste grün-weiße E-Sport-Projekt. Der zweite wäre der E-Sport selbst. Werder will sich breiter aufstellen und seine Fifa-Schwergewichte selbst entwickeln. Ähnlich wie im (realen) Nachwuchsleistungszentrum, in das demnächst Millionen investiert werden sollen, soll die E-Akademie ein virtuelles Ausbildungszentrum werden. Werders Fifa-Profi Erhan Kayman soll mit den Fifa-Talenten arbeiten: Trainingsspiele, Gameplay-Analysen, Teambuilding-Maßnahmen.
Noch gibt es in der E-Fußball-Szene keinen florierenden Transfermarkt mit schwindelerregenden Ablösesummen. Noch. Gewechselt wird aber schon ordentlich. Werder selbst hatte zuletzt seinen Weltmeister Mohammed „Mo Auba“ Harkous an die Schweizer Gaming-Organisation Fokus Clan abgeben müssen, und dafür Erhan „DrErhano“ Kayman vom VfB Stuttgart weggeholt. In der Virtual Bundesliga haben 22 von 36 deutschen Profiklubs aus der ersten und zweiten Liga inzwischen Teams. Hertha, der VfL Wolfsburg und der VfL Bochum hätten auch schon so eine eAcademy, wie sie Werder jetzt gründet, sagt Kupilas. Die jeweilige Ausrichtung soll sich aber unterscheiden.
Werders Ausrichtung: Talente aus der Region holen. Und „gesellschaftliche Verantwortung“ übernehmen. Dominik Kupilas scheut sich nicht, das Schlagwort mit dem Prädikat moralisch wertvoll zu benutzen. Die Academy-Spieler sollen nicht nur an der Konsole zum Vorbild werden. Körperliche Fitness, soziales Verhalten, mediales Auftreten seien ebenfalls Merkmale, auf die geachtet werden soll. Deshalb auch die Sache mit der Wildcard fürs Finalturnier. Die soll jemand bekommen, der in diesen Nicht-Gaming-Kategorien auffällt. In der Bolzerei gewinnt an diesem Tag ein Junge aus Bremen das Turnier. Der Zweite kommt auch aus Bremen, der Dritte aus Syke. Die Wildcard erhält ein erst 14-Jähriger aus Lohne.
Paul Kienast aus Farge ist im Viertelfinale erst in der Verlängerung gescheitert und ausgeschieden. Wer ihn sich als jemanden vorstellt, der seit seinem sechsten Geburtstag fast nur noch vor dem Bildschirm hängt, das Licht scheut und dem Bild von der zunehmend unter Bewegungsarmut leidenden Jugend entspricht, hat ein unscharfes Bild vom Schüler der Oberschule an der Lerchenstraße. Sein Motiv sei der Spaß gewesen, deswegen habe er sich zu Werders E-Turnier angemeldet, sagt er. Er gehe oft ins Fitnessstudio, und viele Jahre lang habe er parallel zum virtuellen auch realen Fußball gespielt, beim Blumenthaler SV.
Auf den ersten Blick liegt an diesem Tag in der Überseestadt keine Der-Jugend-ist auch-nicht-mehr-zu-helfen-Atmosphäre in der Luft. Keine Super-Nerds, Jungs mit Spielsucht-Anzeichen, schweren Fitness-Handicaps oder überehrgeizigen Eltern, die sofort zu erkennen sind. Was nicht heißen muss, dass es sie nicht doch gibt. Erhan Kayman erzählt von einem internationalen Turnier, auf dem er beobachtet habe, wie ein 17-jähriger Junge aus England von seiner Mutter angespornt wurde. „Die ist geradezu durch die Decke gegangen“, sagt Kayman.
Werder E-Profi Michael Bittner scheidet in Atlanta frühzeitig aus
Werder E-Profi Michael „MegaBit“ Bittner ist bei einem Major-Turnier in den USA über die Gruppenphase nicht hinausgekommen. Beim FUT Champions Cup in Atlanta kam der 21-jährige Werderaner in vier Spielen nur zu einem Sieg. Ergebnis: vorzeitiges Aus in den sogenannten Swiss Rounds. Bittner verlor dabei nach einem ersten Erfolg gegen den Brasilianer Matheus "M_Longaray" Longaray im Trikot des FC Brügge nach Rückspiel und Verlängerung. Nach Niederlagen gegen Ryan "HazardHeath" Lewis aus den USA, gegen FelipeAbd" vom Team Bundled sowie den Briten Luke "Crafty" Craft schied Michael Bittner erstmals bei diesem internationalen Turnier vor der K.o.-Phase aus. "Ich bin völlig verdient ausgeschieden. Dass es nach der dritten Runde nicht leicht werden würde, war mir bewusst, enttäuscht bin ich trotzdem", sagte er. In der Virtual Bundesliga liegt Michael "MegaBit" Bittner zusammen mit seinem Partner Erhan "DrErhano" Kayman unter den 22 Team nach mittlerweile 15 Spieltagen auf dem zweiten Tabellenplatz. Es führt Borussia Mönchengladbach.
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