Warum gibt er nicht auf? Selbst ein Anfänger erkennt, dass Mamedyarovs Bauer nicht mehr aufzuhalten ist und sich der bullige Aseri in nur drei Zügen eine neue Dame holen wird. Doch Kramnik schürzt nur leicht die Lippen, als habe er sich eben erst entschieden, die Geheimnisse der Stellung auszuloten, und balanciert seinen Kopf auf einem unterm Kinn verankerten Daumen. Er grübelt und brütet, und ohne, dass etwas geschieht, verrinnt seine kostbare Bedenkzeit.
Im Kühlhaus gibt es keinen klaren Favoriten. Jeder der acht Teilnehmer hat schon einmal die anderen geschlagen, doch alle wissen: Dies hier ist etwas anderes. Denn der Gewinner des Kandidatenturniers, das noch bis zum 28. März in Berlin stattfindet, erhält eine Chance, die nur selten und kaum je wieder kommt: Er darf den Weltmeister Magnus Carlsen herausfordern. Muss er sich erst mit der Niederlage abfinden, ehe er aufgibt? Vielleicht würde es helfen, wenn sein Gegner am Brett säße und nicht wie ein Panther im Käfig hin- und herliefe. Plötzlich macht Kramnik tatsächlich einen weiteren Zug. Er ignoriert einfach die kommende Dame und mit nur König, Turm und Läufer peilt er ein Remis durch Dauerschach an.
Das Leben eines Schachspielers teilt sich in zwei Zeiten: In der ersten träumt er davon, Weltmeister zu werden, in der zweiten weiß er, dass er es nie werden wird. Sieben der acht Männer, die sich im abgedunkelten Kubus des Berliner Kühlhauses an den hell erleuchteten Brettern gegenübersitzen, leben zu ihrem schachlichen Glück noch in der Traumzeit. Der achte hat sich aus
diesen Kategorien befreien können – Wladimir Kramnik ist schon Weltmeister gewesen.
Ein weiter Weg zum Sieg
Mamedyarov stürzt geradezu nach jedem Zug seines Gegners an den Tisch, fast fliegt ihm der Kugelschreiber übers Brett, seine nervöse Energie springt auf die Zuschauer über: Da ist doch gar kein Dauerschach möglich, Kramnik sieht Gespenster! Der Fotograf mit der umgehängten Flagge Aserbaidschans vergisst zu fotografieren und knabbert stattdessen an seinen Fingerknöcheln. Der Bauer des Aseris prescht nach vorn und verwandelt sich in eine Dame.
Für die acht war es ein weiter Weg bis hierhin. Alexander Grischuk und Shakrijar Mamedyarov haben sich über die Grand-Prix-Serie qualifiziert, Levon Aronian und Ding Liren über den Weltpokal, Wesley So und Fabiano Caruana hatten die beste ELO-Zahl, während Sergey Karjakin als Vizeweltmeister automatisch gesetzt war. Bleibt Kramnik: Er hat die Wildcard des Veranstalters erhalten.
Mamedyarov hat nun eine neue Dame, Kramnik nicht. Es wäre ein guter Moment zur Aufgabe, auch in ästhetischer Hinsicht. Doch Kramnik schürzt nur erneut die Lippen. Grischuk kommt und kiebitzt bei den Kollegen. In der Hand hält er eine Plastiktüte mit unbekanntem Inhalt. Sie knistert. Es ist das einzige Geräusch im Kühlhaus.
Kramnik macht einen stillen Turmzug, und plötzlich wird allen klar: Er spielt gar nicht auf Remis, er spielt auf Matt! Ein Murmeln geht durchs Publikum, und sofort kommen die Servicekräfte und halten mahnend ihre Schilder hoch: SILENCE – also Ruhe. Nach anfänglicher Kritik an den schlechten Spielbedingungen stehen sie nun sogar an jeder Tür des ehemaligen Schlachthofs, um ihr lautes Zuklappen zu verhindern.
Kramnik ist der älteste Teilnehmer. Was wäre das für eine Geschichte, wenn der 42-Jährige nach 15 Jahren erneut um den Titel kämpfen dürfte? Und in einem Match gegen Carlsen wäre er wahrlich nicht der Außenseiter. Doch egal, wer gewinnt, es wäre immer eine Geschichte.
Mamedyarov wirkt kurz irritiert, aber dann nickt er nur, als bekräftige er seine bisherigen Schlussfolgerungen. Jetzt bloß kein hektisches Schach mit der neuen Dame. Stattdessen pariert er mit seinem Turm die Mattdrohung. Gibt Kramnik nun endlich auf?
14 Partien hat hier jeder vor sich. Da kann ein Rückstand wieder aufgeholt, aber eine komfortabel wirkende Führung auch schnell verspielt werden. Letzteres musste bereits Kramnik feststellen, der den besten Start hatte, darunter eine furiose Angriffspartie gegen Aronian, gegen den er in nur 18 Zügen auf Gewinn stand – auf diesem Niveau eine absolute Rarität. Doch danach verlor er eine Partie voller Irrungen und Wirrungen gegen Caruana, der seitdem das Feld anführt.
Diesmal zieht Kramnik seinen Läufer und droht von beiden Seiten mit einem tödlichen Schach. Doch Mamedyarov nickt wieder nur, als habe er dies erwartet, und bringt zum ersten Mal seine neue Dame ins Spiel. Schach!
Nach sechs Stunden Spielzeit sind die Zuschauer müder als die Spieler – die Köpfe ruhen schwer auf dem Geländer im ersten Stock. Da ernten nicht einmal mehr die russischen Models einen Blick, die im kleinen Grünen vorbeistolzieren und einen irritierenden Kontrapunkt zum männer- und schwarzdominierten Event setzen.
Plötzlich ist die Partie vorbei, das Schach nimmt Kramnik alle Hoffnungen, und er reicht die Hand zur Aufgabe. Bei einem unaufmerksameren Gegner hätte sein verblüffender Angriff noch zum Erfolg geführt, doch wäre Mamedyarov unaufmerksam, wäre er bei diesem Turnier nicht dabei.
Noch fünf lange Runden sind zu spielen; bis dahin knistert Grischuks Tüte weiter.
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