Schon der Name ist gnadenlos untertrieben. „0815“ prangt auf dem blau-weißen Zwitter aus Schlauchboot und Katamaran. Viel unpassender hätte der Name für Boot und Team kaum gewählt sein können. Denn im Fall von Hagen Jerzynski, 41, ist nun wirklich gar nichts gewöhnlich. Nicht sein Sport, nicht sein Boot, nicht er, der Pilot. „Ach, dit wird ein Kindergeburtstag heute, nüscht Wildes“, berlinert Jerzynski beiläufig vor sich hin, bevor er sein Boot auf die Weser schubst und mit Tempo 100 die Waterfront-Promenade entlangrauscht.
Für den unbedarften Zuschauer kann das einigermaßen irre wirken. Für ihn ist das normal, wenn sein Boot fast schon fliegend um die Bremer Bojen wirbelt. Jerzynski fährt Thundercat-Rennen, so heißt der Sport, der in den 1980er-Jahren in Südafrika entstanden ist, als die dortigen Rettungsboote kurzerhand zu Rennmaschinen umfunktioniert wurden. Jerzynski beherrscht diese Disziplin wie derzeit kaum jemand. Im vergangenen Jahr wurde er Europameister, zusammen mit seinem erst 18-jährigen Co-Piloten Hendrik Rieger. Jerzynski raste schon vor Kapstadts Küste gegen drei Meter hohe Wellen und Haie, die plötzlich vor seinem Schlauchboot auftauchten.
Dagegen wirkt der Kurs, vorbei am Lankenauer Höft, den Containerburgen der Neustädter Häfen, der Waterfront und den in weiter Ferne thronenden Stahlwerken, dann wirklich wie „ein Kindergeburtstag”. Unterschätzen aber will Jerzynski diesen zweiten Lauf der Deutschen Meisterschafen in Bremen trotzdem nicht. „Das Risiko fährt immer mit, auch hier auf der Weser”, sagt er. Ein bisschen macht es Jerzynski auch, weil er die Extreme braucht. „Ich lass' das Vollgas stehen, und Hendrik passt auf, dass wir uns nicht überschlagen”, sagt er. Wahnsinn ist bei ihm sowas wie ein Lebenskonzept. Jerzynski betreibt eine Firma für Baumpflege, er klettere nur auf die höchsten Bäume Berlins, auf die sich sonst keiner traut, sagt er: „Im Job ist es bei mir nicht anders als im Sport: Ein grober Fehler und ich bin hinüber.”
Wie wahr dieser Satz sein kann, hat Jerzynski ziemlich früh erfahren. Gleich in seinem zweiten Thundercat-Rennen riss es einen Piloten aus dem Boot, das vor ihm fuhr. Er hatte keine Chance mehr, zu reagieren. Der Pilot wurde unter Jerzynskis Boot geschleudert, mit voller Wucht fuhr ihm die Schraube durchs Gesicht. Er hatte Glück. Statt seines Lebens verlor er ein paar Zähne. Und ein paar Wochen seiner Zeit, die er im Krankenhaus lag.
Sein neues Mantra: ankommen
„Noch im Boot habe ich gedacht, dass ich hinschmeiße und nie wieder fahre, so geschockt war ich”, erzählt Jerzynski. Natürlich fuhr er wieder. Und dennoch jagt er inzwischen bedachter übers Wasser. Ans äußerste Limit will er nicht mehr gehen, das hat er seiner Freundin versprochen. Sein neues Mantra lautet: ankommen. Wer es halbwegs heile ins Ziel schafft, lande zumeist ganz automatisch unter den besten drei Teams, meint Jerzynski: „Der Rest überschlägt sich, fliegt vom Boot oder hat einen Motorschaden.” Er will nicht mehr erzwingen, in Bremen möglichst viele Punkte für die Deutschen Meisterschaften einzufahren. Die deutsche Thundercat-Szene ist rund 20 Teams klein, etwa die Hälfte startet auch beim zweitägigen Rennen auf der Weser. „Ich will hier keinen meiner Kumpels gefährden”, sagt Jerzynski.
Um im Motorboot die eigenen Grenzen auszutesten, war der 41-Jährige ohnehin nie auf das Thundercat-Rennen angewiesen. Immer schon reizte ihn auch die längere Distanz. Für 1000 Kilometer auf dem Rhein oder 1600 Kilometer auf der Elbe brauchte er nicht länger als einen Tag. Also glaubte er, auch die Ostsee in drei Tagen für ein Spenden-Projekt umrunden zu können. „Ich wollte einmal so lange am Stück im Boot sitzen, bis ich überhaupt keinen Bock mehr aufs Motorbootfahren habe”, sagt Jerzynski. Der Moment kam schneller als erwartet. Nach einem Tag im Boot, ohne Schlaf, ausgestattet allein mit einem Gaskocher, einer dürftigen Notration Essen und einer Palette koffeinhaltiger Brause, geriet Jerzynski in ein Unwetter und steuerte einen Hafen irgendwo bei Kaliningrad an.

Hendrik Rieger (l.) und Hagen Jerzynski vor ihrem Boot „0815“.
Er ahnte nicht, dass er mit Tempo 100 in einen Marinestützpunkt des russischen Militärs gerauscht war. Gerade hatte er seinen Gaskocher in Position gebracht, da kam „ein Riesenkriegsschiff mit Sirenen und Kanonen um die Ecke”. Natürlich hielten sie Jerzynski für einen feindlichen Eindringling. Über einen Tag lang wurde er auf dem Stützpunkt festgehalten und beinahe pausenlos verhört. „Da wurde mir schon ganz anders, ich hatte dort das Gefühl: Wenn sie wollen, dann buchten sie mich jetzt halt ein”, sagt Jerzynski. Auch wenn sie das nicht taten: Die Ostsee-Umrundung war damit erst einmal beendet.
Sie nachzuholen ist einer von Jerzynskis Plänen. Ein anderer hat doch wieder mit dem Geschwindigkeitsrausch zu tun: Jerzynski will zusammen mit Co-Pilot Rieger einen Weltrekord aufstellen. Sie wollen schneller mit dem Thundercat fahren, als das jemals jemanden gelungen ist. Bei 116 Stundenkilometern liegt der Rekord. Im November werden sie in England versuchen, mindestens Tempo 120 zu fahren. Helfen soll dabei ein neuer Propeller aus der Formel 1, den Jerzynski demnächst an seine „0815“ schrauben will. Ihrem Namen werden sie bald also noch weniger gerecht.