Die Musik geht aus. In der Sporthalle der Alexander-von-Humboldt-Schule ist es plötzlich still. In der Mitte der Halle stehen Tänzer in ihren schwarzen Trainingsklamotten und ringen nach Luft. Noch vor wenigen Sekunden sind sie gemeinsam durch die Halle gefegt. Jetzt bewegt sich keiner mehr, nur die 16 Brustkörbe heben und senken sich ungleichmäßig. Das Training des A-Teams des Grün-Gold-Clubs (GGC) Bremen hat vor einer halben Stunde begonnen – und wurde von Trainer Roberto Albanese mit einem kompletten Durchgang der knapp sechseinhalb Minuten langen und außerordentlich temporeichen Choreografie gestartet. Es ist Mittwochabend. Noch eine Woche bis zur Weltmeisterschaft.
Unter den Tänzern sind Tabea und Berit Horstmann. Die beiden Schwestern führen – wie alle hier – zwei Leben. Einerseits ist da das Leben als Leistungssportlerinnen: Tänzerinnen der A-Formation des Grün-Gold-Clubs Bremen in der Bundesliga, als amtierende Weltmeisterinnen und Deutsche Meisterinnen. Im anderen Leben sind sie Studentinnen mit Nebenjobs, Jeans und Sneakern. Denn Geld verdienen sie mit dem Tanzen keines. Obwohl sie so erfolgreich sind. Und obwohl in diesem Erfolg so viel Arbeit steckt.
Tabea Horstmann muss lachen, wenn sie daran denkt, wie oft sie darauf angesprochen wird. „Wie, du bekommst dafür kein Geld?“, heiße es dann ungläubig. „Als Weltmeisterin?“ Im Fußball ist es normal, dass schon Spieler in der Regionalliga ein Gehalt bekommen. Beim Tanzen ist das nicht mal in der Bundesliga der Fall. Grün-Gold und die Sponsoren zahlen gerade mal Reisen zu Meisterschaften, Unterkünfte und Kostüme. „Da haben wir schon Glück gehabt“, sagt Berit Horstmann. Bei anderen Vereinen müssten die Tänzer viel mehr aus eigener Tasche zahlen.
Berit und Tabea Horstmann sind echte Eigengewächse des Vereins. Die Schwestern haben nie woanders getanzt, sich nach und nach ins A-Team hochgearbeitet. Berit, die ältere der beiden, war zuerst dabei. Mit 14 Jahren ging sie zum Casting und wurde in den Verein aufgenommen. Zwei Jahre später folgte Tabea. Mittlerweile ist es für Berit die neunte Saison im A-Team, für Tabea die siebte. Vorher waren beide im B-Team – das ist ähnlich zeitaufwendig. Nebenbei machten sie Abitur, die heute 23-jährige Berit studierte Wirtschaftspsychologie, schreibt aktuell an ihrer Masterarbeit. Tabea hat mit ihren 21 Jahren eine Ausbildung zur Zahntechnikern abgeschlossen, war ein paar Monate in Afrika und studiert nun Medien- und Kommunikationswissenschaften. Beide haben Nebenjobs – und trainieren knapp 25 Stunden pro Woche.
„Wir haben einfach selbst einen so hohen Leistungsanspruch“
Nun wäre der Grün-Gold-Club aber nicht das, was er ist, wenn dort nicht jeder immer alles geben würde. Auch für die beiden Schwestern ist das obligatorisch. Wäre ihnen das alles zu viel – sie könnten ja theoretisch auch in einem der anderen Teams tanzen. Aber halbherzig könnte sie nicht, sagt Tabea Horstmann. „Wir haben einfach selbst einen so hohen Leistungsanspruch“, sagt ihre Schwester Berit. Die Erwartungen in diesem Team kommen nicht von anderen, sondern von den Tänzern selbst.
Gerade in intensiven Trainingsphasen sei es sehr schwierig, alles unter einen Hut zu bekommen, sagt Tabea Horstmann. Ob da nicht manchmal die Energie für andere Dinge fehlen? Die Schwestern sitzen in Tabeas Küche, als ihnen diese Frage gestellt wird. „Jaaa“, stoßen sie gleichzeitig mit einem tiefen Seufzer aus. Oft ginge es nur darum, alles andere irgendwie am Laufen zu halten. Berit erzählt, dass sie ihren Bachelor zwar in Regelstudienzeit geschafft hätte, „aber eben nur durchschnittlich“, wie sie sagt. Oft haben die beiden auch das Gefühl, Freunde und Familie zu vernachlässigen. „Wenn dann auch noch Turniere mit Klausurenphasen zusammenfallen, wird es wirklich hart“, sagt Berit. Einerseits.

Tabea Horstmann mit Tanzpartner Kevin Berger und Berit Horstmann mit Tanzpartner Lukas Witte.
Andererseits sei da das Team, das für die beiden „wie eine zweite Familie“ sei. Das Training, dieser unglaubliche Zusammenhalt. „Tanzen ist mein Ausgleich, das gehört zu mir“, sagt Tabea. „Diese Leidenschaft und die Emotionen, diese Energie: das überwältigt dich immer wieder“, sagt Berit. Plus die Erfahrungen, die sie durch das Tanzen machen würden. Man lerne mit Druck umzugehen, sich und sein Leben zu organisieren, um das alles überhaupt wuppen zu können. Nicht zuletzt der menschliche Aspekt sei wahnsinnig wichtig, sagt Berit. Sie arbeitet neben dem Studium im Personalmanagement. Menschen mit solch einer Teamerfahrung seien im Arbeitsleben unersetzlich. Dass es für all die harte Arbeit kein Geld gibt, stört die beiden nicht. „Das wär’ ja leicht“, sagt Tabea. „Das zeichnet das ja irgendwie auch aus. Dass wir das alles machen, ohne dafür etwas zu erwarten.“
Trotzdem können sich die beiden auch ein Leben ohne das Tanzen vorstellen, sagen sie. „Man sagt, man merkt, wenn es vorbei ist“, sagt Tabea. Irgendwann könne man das Leben vielleicht einfach nicht mehr guten Gewissens um das Tanzen rumorganisieren“, sagt Berit. Wenn das nicht mehr ginge, müsse es eben vorbei sein. Dieser Punkt ist aber nicht jetzt, auch nicht bald. Irgendwann. An diesem Mittwochabend denken Berit und Tabea Horstmann ohnehin an nichts anderes als die bevorstehende Weltmeisterschaft. Der Grün-Gold Club ist seit Jahren der Favorit. Seit 2012 wurde das Team nur in einem Jahr nicht Weltmeister: 2017. Da bekam das Team nur die Silbermedaille.
Nach dem ersten Durchgang atmen sie immer noch schwer, da gibt es von Trainer Albanese schon die Ansage: Und jetzt noch einmal. Es ist 20 Uhr. Zwei Stunden Training hat das Team an diesem Abend noch vor sich.
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