Wer diesen Absatz mühelos durchlesen kann: Glückwunsch – das ist nicht selbstverständlich. Laut einer aktuellen Studie sind 12,5 Prozent aller erwachsenen Deutschen – in Zahlen 6,2 Millionen – nicht in der Lage, kurze Texte zu lesen und zu verstehen. Umgerechnet betrifft das 48 000 Bremerinnen und Bremer. Die erste gute Nachricht: Es ist nie zu spät, mit dem Lernen zu beginnen. Und die zweite: Nirgendwo wird dafür so viel getan, wie an den Volkshochschulen im Land Bremen. Erwachsenenkurse zum Lesen und Schreiben sind seit 40 Jahren fester Bestandteil des Programms.
Die Bremer Volkshochschule (VHS) steht bei der personellen Ausstattung, der Vielfalt der Angebote, der Entwicklung neuer Formate und der Weiterbildung ihrer Dozenten auf einem bundesdeutschen Spitzenplatz. Das sagt Fachbereichsleiterin Sabine Flory, die bei den Treffen des Bundesarbeitskreises Alphabetisierung regelmäßig auf Kollegen aus anderen Bundesländern trifft. Veranstaltungen zur Verbesserung der geschriebenen und gesprochenen Sprache bietet die VHS bereits seit 1946 an. Im September 1979 starteten die ersten beiden Alphabetisierungskurse für Deutsche.
Bremer waren die Ersten
Die Bremer und Bremerhavener VHS waren die ersten beiden Volkshochschulen, die dieses Angebot ins Programm aufnahmen – „begleitet von einem ungläubigen Erstaunen der Öffentlichkeit", sagt die Vorgängerin von Sabine Flory, Monika Wagener-Drecoll. Pro Jahr lernen 500 Bremer in Kursen gemeinsam lesen und schreiben. Wohlgemerkt: Fast alle sind deutsche Muttersprachler, die das deutsche Schulsystem durchlaufen haben und dennoch kein Formular ausfüllen, kein Kochrezept, geschweige denn ein Buch oder einen Zeitungsartikel lesen können. Und auch das hat sich nicht geändert, sagt die Fachbereichsleiterin: „Wenn ich das erzähle, ist das Staunen immer noch groß.“
Wie kann das sein? Wie können junge Menschen die Schule verlassen, ohne mit dem wichtigsten Instrument allen Wissens ausgestattet zu sein? Die Antworten sind vielfältig, erklärt Programmbereichsleiter Metin Harmanci. Bei den Beratungsgesprächen hören die VHS-Mitarbeiter viele persönliche Geschichten. Drei Viertel der Teilnehmer besitzen den Hauptschulabschluss. Manche haben etwa durch Krankheit oder andere Problemlagen unterbrochene Schulkarrieren. Mehr als 60 Prozent sind erwerbstätig, arbeiten jedoch in Bereichen, in denen sie ohne Schriftlichkeit auskommen. "Schulwissen geht mit der Zeit verloren", sagt Flory. „Lesen und Schreiben ist nicht wie Fahrradfahren. Wenn man es nicht übt, kann man es verlernen."
Was jedoch alle verbinde, sei die Tatsache, dass ihnen ihr Defizit sehr unangenehm sei. „Vor ihrer Außenwelt haben sie jahrelang verheimlicht, dass sie nicht lesen und schreiben können. Niemand durfte davon wissen“, berichtet Harmanci. „Bei uns erfahren sie zum ersten Mal: Ich bin nicht alleine. Es gibt auch andere Menschen, denen es genauso geht.“ Daraus entstehe ein besonderes Gemeinschaftsgefühl. „Manche Teilnehmer wollen unbedingt in ihren Kursen bleiben, obwohl sie längst zu gut dafür sind.“
Diejenigen, die kein einziges Wort lesen können, seien die seltene Ausnahme. „Meist können die Teilnehmer einzelne Worte oder auch einen einfachen Satz lesen.“ Danach gefragt, wie sie sich im Alltag zurechtfänden, antworteten sie oft: „Ich habe gut geheiratet.„ Wenn jedoch diese „Co-Person“, die ihnen den Schreibkram abgenommen hat, ausfalle – etwa durch Tod oder Trennung –, breche das Unterstützungssystem weg. „In den meisten Fällen geben Umbrüche im persönlichen Umfeld den Anlass, sich für einen Kurs anzumelden„, sagt Harmanci. Auch Veränderungen in der Berufswelt machten den Nachholbedarf erforderlich. „Vor allem durch die Digitalisierung ist Lesen und Schreiben in fast allen Bereichen viel wichtiger geworden“, betont Flory. „Früher lief Kommunikation mündlich, etwa per Telefon.“ Frauen stellten mit rund 60 Prozent den größten Teil der Gruppen. Ältere entschieden sich für den Kurs, weil sie früher durch Berufstätigkeit und Kindererziehung keine Zeit dafür hatten. Bei den Jüngeren sei oft der Schuleintritt der Kinder der Auslöser. „Die Eltern wollen bei den Hausaufgaben sagen können: Gut gemacht. Oder sie möchten die Elternbriefe lesen können.“
Da alle Kursteilnehmer mit unterschiedlichen Voraussetzungen kämen, sei sogenannte Binnendifferenzierung sehr wichtig, betont Harmanci. In jedem der Kurse unterrichten daher immer zwei Lehrkräfte. Die Alphabetisierungskurse sind gebührenfrei, damit niemand aus finanziellen Gründen von der Teilnahme abgehalten wird. Der als stigmatisierend empfundene Begriff des „funktionalen Analphabetismus“ wurde in Fachkreisen ausrangiert, man spricht heute von Menschen mit geringer Literalität. „Wir sprechen lieber von Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können“, sagt Flory. Auch dies sei ein Versuch, das Thema zu enttabuisieren und potenziellen Teilnehmern die Angst zu nehmen.
Mit mehr Öffentlichkeitsarbeit und neuen Formaten wie „E-Learning“ oder dem Kurs „Buchstäblich fit“, der Alphabetisierung mit Gesundheitsthemen kombiniert, sollen neue Zielgruppen angesprochen werden. Seit Anfang 2019 ist die VHS auch Sitz der „Bremer Fachstelle für Alphabetisierung“: In Zusammenarbeit mit der Senatorin für Kinder und Bildung und gefördert durch den Wirtschaftssenator aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds und des Landes Bremen berät und qualifiziert das Projektteam andere Weiterbildungsträger, Arbeitgeber, kommunale Einrichtungen und Multiplikatoren. Ziel ist, die Angebote zu erweitern. "Mit den bestehenden Kursen bräuchten wir fast ein Jahrhundert, um alle 48 000 Bremer zu schulen.“