Interview mit Bremer Bundestagsabgeordnete Grüne Kirsten Kappert-Gonther über Gesundheitspolitik, Erfolge und künftige Ziele

Die Bremer Grüne Kirsten Kappert-Gonther will auch 2021 wieder auf den Listenplatz 1 für den Bundestag kandidieren. Im Gespräch mit dem WESER-KURIER sagt sie, was sie dort noch erreichen will.
29.08.2020, 05:00 Uhr
Lesedauer: 6 Min
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Grüne Kirsten Kappert-Gonther über Gesundheitspolitik, Erfolge und künftige Ziele
Von Joerg Helge Wagner
Sie bewerben sich bei den Bremer Grünen erneut um den Spitzenplatz bei der Bundestagswahl im kommenden Herbst. Auf welche drei Dinge aus Ihrer ersten Legislaturperiode sind Sie besonders stolz?

Kirsten Kappert-Gonther: Zum einen auf den Coup mit dem Tabak-Werbeverbot. Am Tag vor der Abstimmung über unseren Gesetzentwurf konnte ich die Kanzlerin dazu befragen, und sie war komplett dafür. Das war der Durchbruch: Die Koalition hat zwar unseren Entwurf abgelehnt, aber doch Monate später einen eigenen Entwurf eingebracht. Der war nicht ganz so konsequent, aber insgesamt ist es ein relevanter Schritt, Gesundheitsinteressen vor Industrieinteressen zu stellen.

Und die anderen beiden Punkte?

Bei der Geburtshilfe gab es jahrelang Stillstand, was die Akademisierung des Hebammenberufs betrifft. Gesundheitsminister Jens Spahn war zunächst sehr skeptisch, aber Seit an Seit mit den Hebammen-Verbänden konnten wir am Ende doch ein gutes Gesetz erreichen. Und natürlich die Aufarbeitung unserer kolonialen Vergangenheit: Aufgrund eines Antrags von mir gab es erstmals eine kulturpolitische Debatte dazu im Bundestag. Kolonialismus ist eine der zentralen Wurzeln von Rassismus.

Beim Tabakwerbeverbot irritiert etwas, dass Sie gleichzeitig entschieden für eine sehr liberale Drogenpolitik eintreten.

Es geht immer um den Gesundheitsschutz. Ich will, dass für Drogen grundsätzlich nicht geworben werden darf. Weitaus mehr Jugendliche fangen an zu rauchen, wenn sie dieser Werbung ausgesetzt sind. Wir wissen aber auch, dass die Prohibition von Cannabis komplett gescheitert ist. Auf dem Schwarzmarkt gibt es weder Jugend- noch Gesundheitsschutz, man kauft alle Streckmittel und zusätzlichen Schadstoffe mit. Das potenziert alle möglichen Risiken des Cannabis.

Und Sie wollen eine Legalisierung.

Wir müssen die Kontrolle über den Markt weg vom organisierten Verbrechen in die staatliche Hand überführen. Das heißt: Cannabisfachgeschäfte als lizensierte Abgabestellen.

Also die Dealer am Bahnhof und im Viertel entschieden verfolgen, dafür aber Drogenverkauf in Fachgeschäften für Erwachsene?

Die Hoffnung ist, dass dem Schwarzmarkt die Grundlage weitestgehend entzogen wird, denn der Drogenmarkt lebt vor allem vom Cannabis. Selbstverständlich müssen die kriminellen Strukturen an deren Ende die Dealer stehen, strafrechtlich verfolgt werden. Aber bei den Konsumentinnen und Konsumenten nutzt die Strafverfolgung gar nichts – im Gegenteil, sie schadet.

Und was hätten Sie auf Bundesebene gerne noch erreicht? Oder anders: Was wäre Ihr Hauptanliegen für die Jahre 2021 bis 2025?

Konsequenter Klimaschutz, der bedeutet gleichzeitig auch Gesundheitsschutz. Steigende Hitze führt zu mehr Todesfällen, wer an stark befahrenen Straßen lebt, hat ein hohes Risiko, an den Atemwegen zu erkranken. Aber die Groko in Berlin tritt auf die Bremse, hier muss dringend mehr getan werden.

Eine Verkehrs-, Agrar- und Energiewende stellt doch mit Ausnahme der AfD keine Partei mehr grundsätzlich in Frage. Aber mit welchen Partnern gelänge sie besser: SPD und Linken oder Union?

In jedem Bündnis wären wir die treibende Kraft für den Klimaschutz. Das eine ist, was man sagt, und das andere, was man macht. Die Große Koalition hat gerade ein sogenanntes Kohleausstiegsgesetz beschlossen, das vorne und hinten nicht ausreicht, um unsere Klimaschutzziele zu erreichen.

Was müsste zwingend in einem Koalitionsvertrag – mit wem auch immer – stehen? Der 100-prozentige Umstieg auf erneuerbare Energien? Verbot der Massentierhaltung? Höhere Luftverkehrsteuer?

Alles zusammen und noch mehr. Zu einer echten Verkehrswende etwa gehört auch das Tempolimit: Das wäre so ein einfaches Mittel, gleichzeitig das Klima zu schützen und deutlich weniger Verkehrstote zu haben. Es würde keinen Cent kosten, dafür müsste man viel mehr in die Bahn investieren und in Fahrradwege. Nur so ein radikales und konsequentes Bündel an Maßnahmen sorgt wirklich für Klimaschutz.

Das wird die Verhandlungen nicht einfach machen.

Wir müssen mit klaren Forderungen antreten, nicht mit Kompromissen. Menschen, die uns wählen, müssen wissen, was unsere Überzeugungen sind. Damit geht man dann in Verhandlungen.

Voraussichtlich wird der nächste Bundestag trotz der kleinen Wahlrechtsreform wieder an die 700 Mitglieder haben. Weniger wäre mehr, oder?

Definitiv. Zusammen mit FDP und Linken haben wir Grüne im Bundestag einen Vorschlag für eine Wahlrechtsreform eingebracht. Jede Stimme muss gleich viel wert sein und die Größe des Bundestages deutlich begrenzt werden. Ein Parlament muss arbeitsfähig sein. Wir sind jetzt 709 Abgeordnete.

Zu viele?

Es ist schon sehr eng. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Bundestag auf über 800 anwächst. So viele Abgeordnete braucht man nicht, um die Debatten voranzutreiben.

Haben Sie trotzdem Verständnis für Kolleginnen und Kollegen aus Flächenstaaten wie Niedersachsen, die gegen eine Reduzierung der Wahlkreise um ein Sechstel sind? Für die Bremer bliebe es ja bei zwei Wahlkreisen.

Ich habe absolutes Verständnis, weil viele ihre Arbeit mit Leidenschaft machen. In der grünen Fraktion decken die zurzeit 67 Abgeordneten teilweise schon jetzt große Flächen ab und sind trotzdem bürgernah.

Aber weniger Abgeordnete hieße auch: mehr Redezeit für Einzelne.

Noch sind wir Grünen ja die kleinste Fraktion, und für die allermeisten Debatten habe ich deshalb drei Minuten Redezeit – etwa, um gesundheitspolitisch hochkomplexe Dinge auf den Punkt zu bringen. Das schult, das macht Spaß, aber ab und zu wären eine oder zwei Minuten mehr schon schön.

Die Corona-Krise habe auch gezeigt, dass verantwortungspolitisches Handeln sehr schnell gehen kann, schreiben Sie Ihren Parteifreund(inn)en. Allerdings hatten die Parlamente bei diesem Handeln auch nicht viel zu melden.

Der Gesundheitsausschuss hat die ganze Zeit getagt. Es gab eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Minister und uns. Es war richtig, dass in einer so einschneidenden Krise auch schnell gehandelt wurde. Es sind viele Oppositionsvorschläge – auch von mir – mit eingeflossen in die beiden Bevölkerungsschutzgesetze.

Also nicht nur eine Solo-Vorstellung der Exekutive?

Als der Minister festlegen wollte, dass die Regierung den Pandemiefall ausrufen kann, haben wir gesagt: Das geht nicht, das muss parlamentarische Aufgabe bleiben. Auch bei den Debatten über die Größe der Krankenhaus-Schutzschirme oder die Anzahl der Intensivbetten waren wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier stark beteiligt.

„Gute Gesundheitspolitik und soziale Gerechtigkeit gehen immer Hand in Hand“, sagen Sie. Wo ist die gegenwärtige Gesundheitspolitik sozial ungerecht?

Bei der Vorbeugung und bei der Gesundheitsförderung. In Bremer Stadtteilen geht die Schere auseinander. Ärmere Menschen sterben im Durchschnitt mehrere Jahre früher als Wohlhabende. Gesundheitschancen hängen auch sehr davon ab, wo Menschen wohnen. Das gilt insbesondere für Kinder: Können sie kaum vor die Tür, haben sie weniger Grünflächen und Bolzplätze im Quartier, sind sie häufiger krank. Da zeigt sich soziale Ungerechtigkeit.

Braucht gute Gesundheitspolitik nicht auch ein wirtschaftsfreundliches Klima, damit Jobs sicher bleiben, Sozialabgaben fließen und etwa Pflegekräfte endlich besser bezahlt werden können?

Ja. Aber auch das Gesundheitswesen selbst ist ja ein relevanter Wirtschaftsfaktor. In Bremen generiert es etwa gut zehn Prozent der Wirtschaftsleistung. Natürlich nutzt uns eine florierende Wirtschaft mit gutbezahlten Jobs, aber sie muss auch gemeinwohlorientiert sein und ökologisch funktionieren.

Die ganz großen Unternehmen in Bremen sind aber Industrieunternehmen: Daimler, Airbus, die Stahlwerke. Da steht Klimaschutz vielleicht nicht ganz oben auf der Agenda.

Da widerspreche ich: Diese Branchen sind für Bremen wichtige Säulen und tragen gerade deswegen eine große Verantwortung für den Klimaschutz. Daimler hat eine Linie Elektro-Autos, und das ist gut so. Beides muss zusammen gehen: Das Schützen des Standorts und mehr Ökologie. Auch die Stahlwerke legen inzwischen Wert auf Umweltschutz und Energieeinsparung. Sie brauchen dann aber auch Unterstützung gegen chinesische Stahlimporte, die ohne Umweltstandards erzeugt werden. Es geht darum, die umweltfreundliche Produktion auch bei großen Industrieunternehmen zu fördern.

Das Gespräch führte Joerg Helge Wagner.

Info

Zur Person

Kirsten Kappert-Gonther

sitzt seit 2017 für die Bremer Grünen im Bundestag. Im kommenden Jahr will sie - mittlerweile Obfrau ihrer Fraktion im Gesundheitsausschuss - erneut kandidieren. Die 53-jährige Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ist seit 2002 Mitglied der Grünen, verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

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