Herr Wyllys, seit einigen Jahren erleben wir Hate Speech im Internet. Auch Redakteure des WESER-KURIER sind Ziel von Drohungen und Beleidigungen. Ist das ein neues Phänomen?
Jean Wyllys : Es ist ein altes Phänomen, das durch die Virtualität eine neue Dimension erhält. Falschnachrichten gab es schon immer, aber durch die Verbreitung in sozialen Netzwerken ist es so, um eine Metapher zu gebrauchen, als ob ein Same auf fruchtbares Land trifft und sich dann rasend schnell verbreitet.
Sie sind selbst Opfer von Hassrede und Fake News gewesen. Würden sich die Personen, die Sie im Internet bedrohen, das auch im wirklichen Leben trauen?Das ist der Grund, aus dem ich hier bin. Es ist die Vergiftung durch eine Gruppe, die so weit geht, dass sie mich im realen Leben genauso angegriffen und bedroht hat. Das war im Grunde eine Reproduktion dessen, was in der virtuellen Welt passiert ist. In Mexiko wurden zwei junge Männer, die gerade in einer kleinen Stadt neu angekommen waren, von einer Menge gelyncht.
Es wurde eine Falschnachricht verbreitet, dass ein Mädchen entführt und vergewaltigt worden sei, und die beiden waren die einzigen Fremden. Die Polizei hat versucht sie zu schützen, hat sie ins Gefängnis gesteckt, aber es ging so weit, dass die Menge das Gefängnis stürmte und die beiden ermordete.
Obwohl sich danach herausgestellt hat, dass es kein kleines Mädchen gab, das vergewaltigt wurde. Das bedeutet, dass Fake News ihre Wirkungskraft nicht nur in der virtuellen Welt entfalten, sondern auch Auswirkungen in der realen Welt haben.
Wichtig ist, dass die neuen Kommunikationstechnologien sehr zweideutig sind. Einerseits geben sie Menschen, die früher keinen Raum hatten, sich zu äußern, eine Stimme, sodass es auch einen demokratischen Aspekt gibt. Aber sie befeuern auch den Hass, und gerade unter dem Deckmantel der Anonymität können Menschen zu Monstern werden.
Außerhalb des physischen Kontakts schützt sie das Internet, indem sie sich zum Beispiel Spitznamen geben und unerkannt bleiben können. Ein anderer Aspekt ist, dass die künstliche Intelligenz auf Algorithmen basiert, die uns so steuern, dass wir mit Menschen vernetzt werden, die ähnlich denken wie wir.
Wir werden in Filterblasen isoliert. Die Rassisten sind zusammen mit anderen Rassisten, die Homophoben mit anderen Homophoben. Und so nähren wir selbst das Netz, also die künstliche Intelligenz, mit Informationen, die uns wieder in einer Blase sein lassen.
Wie hat Jair Bolsonaro das Internet im brasilianischen Wahlkampf genutzt?Er hat mit Livetickern Fake News produziert, auf seinen eigenen Twitter-, Facebook- und Instagram-Seiten. Deren Themen drehten sich alle um sexuelle Orientierung, sexuelle Identität und Geschlecht. Und es gab viele Gruppen, vor allem auf Facebook, die das befeuert und verbreitet haben.
Das Schwerwiegende war aber Whatsapp, weil es dort keine Kontrolle gibt. Auf Facebook sind Politiker dagegen vorgegangen, haben die Justiz eingeschaltet. Das war bei Whatsapp nicht möglich. Ohne die Fake News wäre es sehr schwer vorstellbar, dass er gewonnen hätte.
Und Bolsonaro hat für komplexe Phänomene sehr einfache Lösungen angeboten. Zum Beispiel hat Brasilien das Problem der urbanen Gewalt. Diese Gewalt ist verknüpft mit sozialer Ungleichheit, mit Gentrifizierung, mit dem Fehlen von Basisgütern wie fließend Wasser und Strom. Und die Lösung, die Bolsonaro dafür geboten hat, ist: „Ein guter Bandit ist nur ein toter Bandit“.
Und er hat sich mit diesem Satz nicht an die Finanzhaie, an korrupte Unternehmer gerichtet, sondern er hat damit einen ganz bestimmten Typus gemeint, nämlich den armen Schwarzen. Den armen Schwarzen, der einem zum Beispiel das Handy raubt. Und wenn man sich dann vorstellt: Ein einfacher Arbeiter, der sein Handy auf Raten abbezahlt und dem dann das Handy geklaut wird, der unterstreicht dann diesen Satz.
Stehen hinter rechten Bewegungen, wie jener von Bolsonaro in Brasilien, reale Mehrheiten?Es sind zwei Phänomene. Zum einen das Schweigen der Guten, die eher liberal denken. Aber auch die Hassreden der Vielen, die sich so Gehör verschaffen. Die, und das ist ein Phänomen der extremen Rechten, falsche Profile anlegen und damit auch jene erreichen, die vorher nicht so dachten.
Am Beispiel Europas: Viele Menschen, die in ihrem Alltag ganz normal mit Menschen aus arabischen Ländern zusammengelebt haben, haben sich durch falsche Nachrichten überzeugen lassen, dass ihnen die Menschen, die jetzt als Geflüchtete hier sind, die Arbeitsplätze wegnehmen.
Das ist ziemlich perfide, denn die Menschen, die sagen, „die nehmen uns die Arbeitsplätze weg“, würden diese Arbeiten oftmals überhaupt nicht ausführen wollen. Also ist es die Angst der Guten, aber auch die Vergiftung durch die Hassredner.
Es gibt jetzt drei Generationen, die mit den neuen Medien umgehen. Es gibt die Generation der Digital Natives, die mit dem Internet aufgewachsen ist. Es gibt die Generation, zu der ich auch gehöre, die diese Übergänge erlebt hat.
Und es gibt eine Generation, die nicht mit virtuellen Welten groß wurde. Die beiden letzteren haben Schwierigkeiten, weil Fake News sich aus der Wirklichkeit speisen und es schwer ist, sie von wahren Nachrichten zu unterscheiden.
Bei Fake News handelt es sich um bewusst gefälschte Nachrichten. Wer profitiert davon?Zum einen gibt es Leute, die daran viel Kohle verdienen, weil sie damit Klicks produzieren. Andere ziehen politische Vorteile daraus und demontieren so ihre Gegner. Ein weiteres Motiv ist Rache; dass man als persönlichen Vorteil daraus zieht, eine Person zu zerstören.
In Deutschland und auch in Bremen tauchen immer wieder Fake News auf, von denen die meisten leicht zu widerlegen sind. Wie können offensichtliche Lügen fortbestehen?Ich stelle mir die Frage auch, wie 40 Millionen Brasilianer, die Bolsonaro nicht gewählt haben. Wie kann es sein, dass ein Mensch, der die Nachricht verbreitet, der andere Kandidat würde in Schulen Kinder homosexualisieren, Präsident sein kann. Meine Erklärung ist, dass Fake News wie ein Virus sind, und dass manche empfänglicher dafür sind als andere.
Vielleicht sind die Menschen in Deutschland weniger empfänglich, weil sie eher Zugang zu Bildung haben und ein größerer Wohlstand da ist. In Brasilien, wo viele Menschen keinen Zugang zu Bildung haben, sind die Leute empfänglicher für diesen Virus.
Ich kann jetzt nicht zurückkehren, weil ich Morddrohungen erhalte und mein Leben auf dem Spiel steht. Die Menschen, die drohen mich zu ermorden, stecken in Verbindung mit den obersten Politikern. Ich würde zurückkehren, wenn sich die extreme Rechte auflösen würde, wenn Leute, die Verbrechen begangen haben, ins Gefängnis kämen, wenn alles aufgeklärt würde.
Was Hate Speech betrifft, denke ich, dass es zukünftig besser wird, wenn im Internet Mechanismen entwickelt werden, dem zu begegnen und die Kommunikation gesünder zu machen. Wir sind da in einer Phase unserer Jugend, unserer Adoleszenz.
Das Gespräch führte Jakob Milzner.Jean Wyllys (45) Morddrohungen veranlassten den homosexuellen Menschenrechtler, Politiker und Publizisten Anfang 2019, sein Heimatland Brasilien zu verlassen. Anlässlich des Brasilienschwerpunkts der Hochschule Bremen war der Dissident nun für einen Vortrag in Bremen zu Gast.
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Dieser Text ist der letzte Teil einer Reihe zum Thema Hate Speech im Internet. Am Beispiel Brasilien zeigen sich Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zur Situation in Bremen.
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