Es ist schon dunkel, als am 6. November 1918 ein Soldat auf den Balkon des Bremer Rathauses tritt. Kurz zuvor hat der Revolutionär und Politiker Adam Frasunkiewicz von hier die Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates verkündet. Der Soldat, so ist am folgenden Tag in den „Bremer Nachrichten“ zu lesen, sprach zur Menge über das, was ihn bewegte: die Soldaten hätten sich entschlossen, sich in den Dienst der Revolution zu stellen, um die Herrschaftsverhältnisse umzukehren. Und um zu verhindern, dass an den Kriegsfronten weitere Menschenleben geopfert werden. Dann brachte er ein Hoch auf die Räte aus. Es war der Auftakt zu revolutionären Geschehnissen bis hin zur gewaltsamen Auflösung der Räterepublik am 4. Februar 1919. Am Donnerstag standen diese Ereignisse im Fokus einer Tagung im Haus der Bremischen Bürgerschaft.
Rund 125 Interessierte waren zu der Veranstaltung mit dem Titel „Novemberrevolution und Räterepublik – Bremen und Nordwestdeutschland zwischen Kriegsende und Neuanfang“ in den Festsaal gekommen. Christian Weber, Präsident der Bürgerschaft, zeigte sich positiv überrascht von so viel Resonanz. In seiner Begrüßung hob er die Wichtigkeit der Novemberrevolution hervor. Schließlich habe diese lange als die Revolution gegolten, die die NS-Diktatur nicht verhindert hätte. Weber hingegen betonte, dass nach der Novemberrevolution „nicht mehr Gottes Gnade, sondern Volkes Wille galt“.
Der Leiter des Staatsarchivs, Konrad Elmshäuser, erklärte, es sei ein hohes Gut, an einem Ort wie dem Haus der Bürgerschaft eine derartige Veranstaltung 100 Jahre nach den Ereignissen ausrichten zu können. „Das ist alles andere als selbstverständlich“, sagte er. Insgesamt neun Vorträge nahmen die Ereignisse in Nordwestdeutschland und Bremen unter die Lupe. Moderiert wurde die Tagung von Eva Schöck-Quinteros von der Universität Bremen. Einer der Referenten war Hans Rudolf Wahl, Medienwissenschaftler an der Universität Bremen. Unter dem Titel „Politik und Öffentlichkeit 1918/19 in Bremen: Revolution, Räterepublik und Demokratiegründung“ nahm er die lokalen Ereignisse in den Blick. Für die historische Forschung sieht der 51-Jährige noch viel Spielraum. „Über diese Revolution ist mitnichten alles gesagt, was gesagt werden müsste“, betonte er im Gespräch mit dem WESER-KURIER.
Als Beispiel führt er die Rolle des Bürgertums nach Proklamation der Räterepublik am 10. Januar 1919 an. „Die bürgerlichen Kräfte sind bisher viel zu wenig als Akteure des Revolutionsgeschehen wahrgenommen worden“, kritisiert Wahl. Oder wenn doch, dann „nur als böse Buben, aber nicht als gesellschaftliche Kraft“.
Die Freikorpskämpfer nur als Wegbereiter der Nazis zu sehen, hält Wahl jedoch für zu kurz gegriffen. Von der Niederschlagung der Räterepublik führt nach seiner Ansicht kein direkter Weg zur NS-Machtübernahme. „Wir müssen aufpassen, nicht eine neue Mythografie zu stiften“, warnt der Germanist und Historiker. In der 68er-Narration werde gern suggeriert, eine verräterische Sozialdemokratie habe den Aufbruch zu einer besseren, sozialistischen Gesellschaft verhindert. Nach seiner Auffassung „auch eine Dolchstoßlegende“ – sozusagen das linke Gegenstück zur rechten Dolchstoßlegende, nach der die Kriegsniederlage allein subversiven Kräften in der Heimat zuzuschreiben sei, die dem „im Felde unbesiegten Heer“ den Dolch in den Rücken gestoßen hätten. „Man sollte alte politische Schlachten nicht immer weiter schlagen wollen“, sagt Wahl.
Bürgerliche Selbstmobilisierung
Mit „diesem entzückenden Freikorps Caspari“ (Schöck-Quinteros) befasste sich Jörn Brinkhus vom Staatsarchiv Bremen. Akribisch hat der Historiker die biografischen Hintergründe der Freikorpskämpfer recherchiert. Sein Fazit: Anders als vielfach angenommen setzte sich das Freikorps keineswegs hauptsächlich aus entwurzelten und desillusionierten Soldaten zusammen. Vielmehr schlossen sich zahlreiche Söhne führender Bremer Familien dem Freikorps an. Brinkhus spricht deshalb von einer „bürgerlichen Selbstmobilisierung gegen die Bremer Räterepublik“.
Widersprüchlich bleibt das Bild von Oberst Walter Caspari, dem Namensgeber der Freikorpstruppen. Angesichts seiner militärischen Vorgeschichte wäre laut Brinkhus beim Einmarsch in Bremen „keine nennenswerte Rücksicht“ auf Gegner und Zivilbevölkerung zu erwarten gewesen. Dennoch sei im Vergleich zu den Kämpfen in München und Berlin die Gewaltanwendung in Bremen begrenzt gewesen. Gefangene Revolutionäre seien in der Hansestadt „nicht summarisch erschossen“ worden.
Doch was ist denn nun eigentlich geblieben von den damaligen Ereignissen? Als größte Errungenschaften der Novemberrevolution beurteilt Wahl das Frauenwahlrecht und das Prinzip der demokratischen Legitimation. Seither sei Politik nicht mehr „in den Hinterzimmern der Macht gemacht“ worden, es habe einen „grundlegenden Strukturwandel der Politik“ gegeben. Die Bedeutung der Presse sei sprunghaft angestiegen, es habe eine mediale Massenpolitisierung eingesetzt.
Gleichwohl warnt Wahl davor, die Bundesrepublik ohne weiteres in die Tradition der Weimarer Republik zu stellen. Die parlamentarische Demokratie der Weimarer Verfassung sei ein „sehr labiler Machtkompromiss“ zwischen alten und neuen Kräften gewesen. „Die Weimarer Republik war die erste Demokratie in Deutschland, aber noch nicht unsere Demokratie.“
Anders dagegen der Historiker und Journalist Wolfgang Niess aus Stuttgart. Aus seiner Sicht ist es Zeit für eine Neubewertung, die Novemberrevolution tauge durchaus dazu, „sie zum festen Bestandteil unserer demokratischen Tradition zu machen“. Angesichts der Bedrohung der Demokratie durch populistische Bewegungen erinnerte Niess daran, dass die Weimarer Republik nicht nur an den extremen Linken und Rechten gescheitert sei, sondern auch an der „Ignoranz und Demokratiefeindlichkeit des Bürgertums“.
Die Bremer Räterepublik hatte nur 25 Tage Bestand. Am 4. Februar 1919 wurde sie von Regierungstruppen und dem Freikorps Caspari gewaltsam niedergeschlagen. Anlässlich des 100. Jahrestages plant der WESER-KURIER im kommenden Jahr ein Dossier über die Ereignisse und ihre heutige Bewertung.
Revolution und Räterepublik
Nachdem in Kiel stationierte Matrosen sich Ende Oktober 1918 einem sinnlosen Flottenbefehl widersetzten, kommt es zu einem Aufstand, der sich innerhalb weniger Tage über ganz Deutschland ausbreitet. Im Zuge der Novemberrevolution folgt am 9. November die Ausrufung der Republik, eine sozialistische Regierung übernimmt die Führung. Bald darauf enden die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs, der deutsche Kaiser Wilhelm II. dankt ab und geht ins Exil. In Bremen beanspruchen seit dem 15. November 1918 Arbeiter- und Soldatenräten die Macht für sich. Aufgrund von Unstimmigkeiten in den Räten und Streitigkeiten um Wahlen kommt es am 10. Januar 1919 zur Proklamation der Räterepublik.