Friseursalon in Bremen Vielfalt als Geschäftsmodell

Wer den Kopf frei kriegen will, der geht zu Yusuf Gezgin. Das Erfolgsrezept seines Bremer Friseursalons 90 Grad: ein vielfältiges Team und eine Prise Wahnsinn.
11.02.2019, 19:53 Uhr
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Vielfalt als Geschäftsmodell
Von Imke Wrage

Um den Kopf freizubekommen, braucht Yusuf nur Sekunden. Er setzt einfach an, Kamm in der einen, Schere in der anderen Hand, und schneidet zu. Eine Strähne hier, eine Strähne dort, nebenbei ein Plausch, „wie geht’s, mein Schatz?“ Am Ende sitzt vor ihm ein (neuer) Mensch mit weniger Haar – und (meist) mit weniger Sorgen. Yusuf Gezgin, den alle nur Yusuf nennen, ist Inhaber des Bremer Friseursalons 90 Grad. Dort läuft alles ein bisschen anders, sagt er. Sein Motto: „Wir schneiden um die Ecke.“

Yusuf, 38, Sohn türkischer Einwanderer, ist ein lockerer Typ: tätowierte Arme, schwarze Kleidung, das lange Haar hat er zu einem Knoten auf dem Kopf zusammengebunden. Sein Friseursalon ist einer dieser Orte, an denen die Kunden „Gäste“ heißen und an denen statt „Sie“ nur das „Du“ existiert. Die Wände des Salons sind hell gestrichen, der weitläufige Raum ist in ein freundliches Licht getaucht. An der Decke über den Waschbecken laufen Bilder von Wasserfällen und Sonnenaufgängen in Dauerschleife, Soulmusik spielt dezent im Hintergrund.

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Eine junge Frau nimmt vor Yusuf Platz, das Haar schon gewaschen, Augen auf das eigene Spiegelbild gerichtet. „Ein bisschen Farbe bitte, und nicht zu viel weg“, sagt sie. Die Studentin kommt seit sieben Jahren her, habe hier schon so manches Mal die Hälfte des Nebenjobgehalts verprasst. „Ich will nur Yusuf“, sagt sie. Ein Haarschnitt bei 90 Grad ist nicht gerade günstig: Je nach Wunsch kommen schnell hundert Euro zusammen. „Handwerk sollte gut bezahlt werden, ganz egal, in welcher Branche“, findet Yusuf. Seine Gäste finden das auch. Freie Termine sind entsprechend rar.

Meister der Scheren und Kämme

Dass Yusuf, geboren in Delmenhorst, mal einen eigenen Salon führen würde, „tja, wer hätte das gedacht“, sagt er. Eigentlich habe er einen Beruf lernen wollen, der so richtig männlich ist. Was mit Muskelkraft, Kfz-Mechaniker zum Beispiel. Weil er kreativ und kommunikativ ist, habe ihn Schwester Yasemin – selbst Friseurin – stattdessen überredet, lieber Friseur zu werden. „Am Anfang ging es mehr um Frauen als um Haare“, scherzt Yusuf, meint das aber auch ein bisschen ernst. „Ich war 16, als ich meine Ausbildung zum Friseur begonnen habe – und war plötzlich nur von schönen Frauen umgeben.“ Später habe er Gläser für fünf Euro die Stunde poliert, um sich die Meisterschule leisten zu können. „Ich wollte besser werden, einen eigenen Laden eröffnen.“

Mittlerweile ist er der Meister der Scheren und Kämme, bei manchen sogar bekannt als „Dr. Haar“. Wenn Yusuf zum Schnitt ansetzt, dann tut er das so schnell, wie er sich beim Reden überschlägt oder im Laden von Spiegel zu Spiegel tänzelt. Hier trocknen, dort färben, Spitzen ab oder eine Bartrasur. Zwischendurch ein kleiner Witz mit den Kollegen – auf Türkisch, Deutsch oder anderen Sprachen.

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Denn, auch das ist bei 90 Grad besonders: Yusuf hat Vielfalt zum Geschäftsmodell gemacht. Eigentlich eher unbewusst, sagt er. Seine elf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (und ein adoptierter rumänischer Straßenhund) kommen aus neun Ländern und sprechen elf unterschiedliche Sprachen.

Fürs Geschäft ist das von Vorteil: „Egal woher unsere Gäste kommen, wir haben für fast jeden den passenden Friseur“, sagt Yusuf. Wer Litauisch oder Russisch spricht, der geht zu Deimante, Rumänisch zu Alina, Serbisch zu Djani, Türkisch zu Yusuf oder Yasemin. Außerdem wird Kurdisch, Albanisch, Italienisch, Griechisch, Englisch und, klar, auch Deutsch gesprochen. Yusuf zeigt auf eine junge Frau, optisch kaum von den anderen zu unterscheiden (alle sind jung, hip, schön und gut frisiert): „Das ist Marie, unsere Exotin“, sagt er – die einzige „waschechte“ deutsche Mitarbeiterin.

„Intoleranz ist Mutter aller Probleme“

Die bunte Mischung, sagt Yusuf, beflügele den Laden und mache kreativer. Warum das so ist, verbildlicht er am liebsten kulinarisch: „Stell dir vor, du willst eine Gemüsepfanne machen, hast aber nur ein Gemüse – ist doch einseitig.“ Oder anders: „Du willst dein Lieblingsessen kochen, hast aber nur ein einziges Gewürz – schmeckt doch fad.“ Deswegen sei in seinem Laden auch jeder willkommen, egal aus welchem Land. „Bei uns zählen Haare – und natürlich Köpfchen“. Nur auf rechte Hetze habe er keinen Bock, sagt Yusuf. Er findet: „Intoleranz ist die Mutter aller Probleme.“

Währenddessen geht die Tür auf, nächste Kundin rein, Tür zu. Eine alte, schon etwas schwerhörige Dame mit schwarz gefärbtem Haar betritt den Salon. Dort landet sie erst in den Armen des Chefs („Frau Güüünther, mein Schatz, komm mal her“), wird dann von Angela in die Sofaecke gelotst und versinkt dort inmitten von Kissen.

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Angela, zur Hälfte Italienerin, ist die Herrin über den Empfangstresen. „Unser Motor, ohne sie läuft hier nichts“, sagt Yusuf. Lässig steht Angela hinterm Tresen, die eine Hand zwirbelt eine Locke, die andere dirigiert das Geschehen („aber pronto!“) oder notiert Termine im Kalender. Dabei hat sie alles im Blick. „Das muss man auch bei diesem Haufen“, sagt sie.

„Wir-lassen-Köpfe-rollen“

Was sie meint, wird spätestens dann klar, als Yusuf eine Runde „Wir-lassen-Köpfe-rollen“ vorschlägt. „Djani?“, fragt er, blickt seinen Auszubildenden an. Der weiß, was zu tun ist. Aus einer Ecke des Raumes schleift Djani – groß gewachsen, halb blond, halb braune gefärbte Haare – einen Karton, steckt die Hand rein und holt nacheinander ein Dutzend Frisierköpfe hervor. Die arrangiert er auf dem Boden. Alle, bis auf einen. Den greift Yusuf bei den Haaren, holt aus und kegelt die anderen mit voller Wucht um.

Kurzer Blick in den Raum: Die Gäste scheint das nicht zu stören, im Gegenteil. Eine Frau, das Haar komplett in Folie verpackt, ist in einen Artikel in der „Tina“ und ihren Milchkaffee vertieft. „Mit ihrem Mann kommt sie schon seit zehn Jahren aus Oldenburg zu mir“, sagt Yusuf. „Die kennen mich nur so, mein Kopf ist halt anders.“ Seine Mutter frage ihn deshalb häufig, wann er denn endlich mal erwachsen werde. „Nie, Mama, nie“, sagt er dann. Eine Prise Wahnsinn gehöre dazu. Die sei ja auch irgendwie das Erfolgsrezept.

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