Herr Krallmann, der erste Bundesliga-Spieltag der neuen Saison steht an. Was ist da Ihre Aufgabe als Trainer?
Matthias Krallmann : Ich mache mir zunächst mal Gedanken, wie unsere Gegner (OSG Baden-Baden und Schachfreunde Deizisau, d. Red.) spielen könnten. Mit unserem Mannschaftsführer Gennadij Fish bespreche ich, wie wir selbst aufstellen.
Können Sie frei aufstellen? Frei entscheiden, wen Sie an welches der acht Bretter setzen?
Das könnte ich in Holland. Das ist, glaube ich, die einzige Liga in Europa, wo das ginge. Hier könnte ich nicht unsere Nummer eins an Brett fünf oder sechs einsetzen, ich muss das Ranking einhalten. Ich könnte aber Spieler weglassen und dadurch taktieren.
Sie tüfteln, wen Sie am Wochenende einsetzen?
Ich kann da jetzt nicht zu viel verraten. Bekannt ist ja schon, dass Luke McShane als bester Spieler der vergangenen Saison geehrt wird. Der wird also anwesend sein und zumindest eine Partie spielen.
Ansonsten halten Sie geheim, wer antritt?
Genau. Das wird vorher nicht bekanntgegeben. Das ist eine Sache der Taktik.
Einer Team-Taktik?
Erst mal muss man sich klarmachen, dass Schach keine Mannschaftssportart ist. Sportwissenschaftler nennen es eine additive Einzelsportart. Die Spieler müssen nicht unbedingt harmonieren. Es gibt da Beispiele von Nationalmannschaften, die Europameister wurden, obwohl die Spieler zerstritten waren. Grundsätzlich versucht man natürlich, ein gutes Teamklima herzustellen.
Achten Sie darauf in der Vorbereitung?
Zu gucken, welche Spieler man verpflichtet, gehört dann auch zu meinen Aufgaben. Ich bin da neben Gennadij Fish, Manager Olaf Steffens und Abteilungsleiter Oliver Höpfner in der Verantwortung. Nach einem zuletzt für Werder-Verhältnisse großen Umbruch zuletzt mit drei neuen Spielern haben wir den Kader auch im Sinne eines Teamgeistes kaum verändert. Wir haben acht Vollprofis aus dem Ausland bei Werder. Wir achten sehr darauf, dass wir mit einer Mischung aus internationalen Profis und deutschen Amateuren antreten. In der Regel sind bei acht Brettern immer zwei deutsche Amateur-Spieler dabei. Am Ende sitzt aber jeder für sich allein am Brett. Und je höher die Spielklassen sind, desto weniger wichtiger ist der Teamfaktor.
Warum?
Eine Mannschaft liegt zum Beispiel in der Kreisklasse 1:3 zurück. Dann müssen die anderen vier Spieler alles auf eine Karte setzen und ganz riskant spielen. Klappt manchmal, manchmal nicht. In der Bundesliga klappt das fast nie. Die Duelle sind auf zu hohem Niveau. Man kann nur immer weiterspielen, nicht Remis annehmen oder anbieten. Wenn einer, der einen soliden Stil pflegt, plötzlich zuviel Risiko geht, geht das meistens nach hinten los. Dieses Sich-für-Mannschaft-opfern-Wollen, das funktioniert meistens nicht.
Als Trainer können Sie nicht eingreifen?
Wenn einer unserer Spieler ein Remis-Angebot bekommt, fragt er Gennadij Fish oder mich, ob er das nehmen soll. Wir dürfen nur mit Ja oder Nein antworten. Wenn ich sagen würde: Wieso annehmen, du stehst doch besser, wäre das schon ein unerlaubter Eingriff. Handys oder Computer sind im Turniersaal verboten, ich könnte sonst zum Beispiel auf ein Analyse-Programm zurückgreifen.
Stellen Sie so etwas wie einen Matchplan auf?
Eine ganz wichtige Rolle spielt im Schach ja die Farbe. Mit Weiß hat man den ersten Zug und einen minimalen Vorteil. Vergleichbar mit dem Aufschlag im Tennis. Wenn es sehr gut läuft, hoffen wir mit unseren vier Weiß-Spielern auf zwei Siege und zwei Unentschieden. Haben wir einen so starken Gegner wie Baden-Baden, den FC Bayern der Schach-Bundesliga, spielen wir mit Schwarz auf Halten. Bei schwächeren Gegnern spielt man auch mit Schwarz zumeist auf Sieg.
Gehen Sie das vorher mit jedem Einzelnen durch: welche Eröffnung, wie viel Risiko?
Kommt darauf an. Mit jemandem wie Matthias Blübaum, den ich vor sechs Jahren quasi aus Bielefeld mitgebracht habe und der fünf Jahre für Bremen spielte, gab es diesen sehr intensiven Austausch. Da haben wir in der Tat die Eröffnungen vorbereitet und uns auf viele mögliche Gegner eingestellt. Je besser ein Spieler ist, desto selbstständiger macht er das.
Er braucht keinen Trainer mehr?
Viele Top-Großmeister haben keinen mehr, sondern trainieren mit dem Computer. Die Programme sind so stark, die Datenbanken haben mehrere Millionen Partien. Viele Großmeister bereiten sich also auch in der Bundesliga allein auf ihre Gegner vor.
Der Gegner stellt vielleicht anders auf als gedacht. Wie hoch ist das Überraschungsmoment?
Es gab mal ein Bremer Spiel in Berlin, wo Berlin überraschend einen Weltklasse-Spieler eingeflogen hat. Das war dann tatsächlich so, dass Werders Spieler ganz geschockt waren. Wir wissen von mehreren Baden-Baden-Spielern, dass sie bei der WM in London dabei sein und gegen uns fehlen werden. Einer kommentiert die WM für eine Internet-Plattform, er könnte theoretisch gegen uns doch zum Einsatz kommen. Da wären wir dann schon überrascht. Deizisau hat an Brett zwei einen Amerikaner gemeldet. Ich denke, die werden den nicht einfliegen am Wochenende. Kann aber doch sein, dann staunen wir. Vielleicht staunt aber auch der Gegner über uns.
Man muss mit allem rechnen?
Die Spieler erfahren zwei Stunden vorher, wer ihr Gegner ist. Viele sitzen bis zuletzt im Hotelzimmer und versuchen noch schnell, sich mittels des Computers vorzubereiten.
Ist das ratsam?
In der klassischen Trainingslehre würde man sagen: um Gottes Willen. So kurz vor der Partie noch so viel zusätzliche Belastung, das ist schlecht. Lieber was essen, einen guten Spaziergang machen oder sich nochmal hinlegen.
Greifen Sie da beratend ein?
Ja, durchaus. Meine Philosophie war immer: vorm Spiel frische Luft und, wer‘s kann, ein kleines Nickerchen. Aber es hat sich sehr gewandelt. Viele Spieler sind sehr jung. Und die sind so fit, dass ihnen das nichts ausmacht. Die verlängern ihre Spielzeit praktisch nochmal um zwei Stunden. Aber einem Älteren würde ich das nicht empfehlen, wenn er weiß: Ich habe eine harte Partie mit vielleicht sechs, sieben Stunden vor mir. Da fehlt am Ende die Energie. Es bleibt ja doch ein Ratespiel, wie der Gegner nun eröffnen wird.
Wenn inzwischen so viel über Computerprogramme läuft: Was macht ein Schachtrainer dann?
Ich analysiere alle Partien unserer Spieler. Auch die, die sie irgendwo auf der Welt auf Turnieren spielen. Und dann wird die Analyse, die ich auch wieder mit Hilfe des Computers und von starken Schachprogrammen anfertige, den Spielern zugeschickt. Ich bin jetzt 56 und war auch kein herausragender Spieler. Aber ich kann mithilfe des Computers herausfinden, wo wer hätte besser spielen können.
Es gibt nicht die Haltung: Was will der Trainer mir denn beibringen? Ich bin doch besser als er?
Weiß ich nicht, die Einen nehmen es an, die Anderen nicht. Es sind Individualisten. Ich kann und will niemanden zu etwas zwingen.
Ist die Analyse-Arbeit der Hauptteil Ihres Trainerjobs bei Werder?
Bis Weihnachten bin ich zunächst mal an fünf Wochenenden unterwegs. Ich spiele ja auch selbst noch für unsere zweite Mannschaft. Dazu gebe ich auch Training für Spieler der zweiten und dritten Mannschaft.
Das auch noch. Wie läuft es denn dort ab?
Im Gruppentraining zeige ich auf der Leinwand eine Partie oder bestimmte Stellungen. Und stelle Fragen dazu. Was würdet ihr hier spielen, was ist der beste Zug? Oder sie spielen die Partie weiter, um herauszufinden: Ist das gut, liegt mir diese Spielweise? Sollte ich lieber die Finger davon lassen? Im Einzeltraining ist es so ein Frage-und-Antwort-Spiel. Oder zwei Spieler spielen und der Trainer greift korrigierend ein. Oder sie müssen eine Aufgabe unter Zeitdruck angehen. So wird quasi eine Wettkampfsituation simuliert.
Das Gespräch führte Olaf Dorow
Matthias Krallmann (56)
arbeitet seit 2012 als Schach-Trainer beim SV Werder. Der frühere Lehrer und Bundesliga-Spieler pendelt regelmäßig zwischen Bremen und seinem Wohn- und Heimatort Bielefeld. Als Schach-Trainer besitzt er die A-Lizenz.
Weitere Informationen
Werders Kader (im Ranking):
Daniil Dubov (Russland/ ELO-Zahl/Spielstärke 2691), Laurent Fressinet (Frankreich/2645), Luke McShane (Großbritannien/2669), Alexander Areshchenko (Ukraine/2652), ZaharEfimenko (Ukraine/2641), Romain Edouard (Frankreich/2638), Zbynek Hracek (Tschechien/2557), Tomi Nyback (Finnland/2579), Wouter Spoelman (Niederlande/2572), Vlastimil Babula (Tschechien/2522), Jan Werle (Niederlande/2529), Rolf-Alexander Markgraf (Deutschland/2502), Martin Zumsande (Deutschland/2458), Gennadij Fish (Deutschland/2454), Gerlef Meins (Deutschland/2409), Sven Joachim (Deutschland/2394), Spartak Grigorian (Deutschland/2365), Nikolas Wachinger (Deutschland/2360)