Bremen. Die Frau verhält sich wie eine Besessene? Der Nachbar scheint irgendwie wahnsinnig zu sein? Schuld an allem ist nur ein kleiner Stein. Das glaubte man zumindest im Mittelalter. Scharlatane reisten umher, um vor Publikum ihr vermeintliches Können unter Beweis zu stellen. Auf öffentlichen Plätzen öffneten sie ihren Patienten die Kopfhaut, um die Steinchen, die angeblich für den Wahnsinn der Betroffenen verantwortlich waren, zu entfernen. Stein- oder auch Narrenschneiden nannte man dieses morbide Schauspiel, das natürlich auch in der Kunst – unter anderem vom niederländischen Maler Hieronymus Bosch (1450-1516) – aufgegriffen wurde.
Und auch heute, mehrere Jahrhunderte später, beschäftigt es noch die Kreativen. Der italienische Künstler Christian Fogarolli hat sich gleich in mehreren Arbeiten mit dem mittelalterlichen Glauben, dass kleine Steine im Gehirn Auslöser für Geistesstörungen sind, auseinandergesetzt. Er verbindet Fotografien mit beleuchteten, vor den Köpfen der Gezeigten schwebenden Steinen. Bei der Arbeit „In Pink“ (2018) hat der Betrachter sogar die Möglichkeit, den Stein selbst mit einer kleinen UV-Lampe anzustrahlen – und so selbst zum Urteilenden zu werden, zum Experten, der jemanden untersucht, der vermeintlich krank ist. So stellen Fogarolli und die gesamte Ausstellung, die aktuell in der Galerie im Park am Klinikum Bremen-Ost zu sehen ist, auch unser Menschenbild und den Umgang mit psychisch Erkrankten infrage.Wahnsinn? Was ist das überhaupt? Wer legt ihn fest? Und wie sieht er aus? Diesen und anderen Fragen widmet sich die Ausstellung „Madness“, die wie schon die bisherigen Schauen in der Galerie nicht nur das Ziel verfolgt, spannende, zeitgenössische Kunst zu zeigen, sondern auch den Blick der Besucher auf die Psychiatriegeschichte zu erweitern und ihr Verständnis für psychische Erkrankungen zu fördern. So informiert die Ausstellung unter anderem auch über die Psychiatriereform in Italien und Bremen. Neben Fogarolli sind noch sechs weitere internationale Künstler in der Ausstellung zu sehen. Kuratiert wurde sie von Uwe Goldenstein, von der Galerie Selected Artists aus Berlin. Er arbeitet bereits seit elf Jahren mit der Kulturambulanz zusammen. Ein Großteil der ausgestellten Werke zeigt Porträts. Eine Ausnahme bilden die Arbeiten der Schweizer Pianistin und Fotokünstlerin Karina Wisniewska. Bei ihren Fotografien aus der Serie „Shadows“ handelt es sich um verschwommene Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Wäldern, die aussehen „als würde jemand die Landschaft wahrnehmen, der sich nicht mehr an sie erinnert“, sagt Goldenstein und verweist gleichzeitig darauf, dass die Künstlerin sich in ihrem Schaffen viel mit dem Thema Demenz auseinandersetzt.
Mit zahlreichen Arbeiten von Simone Haack ist auch eine ehemalige Bremerin in der Ausstellung vertreten. Besonderer Hingucker ist ihre Arbeit „Four“ (2013), die vier gleich aussehende blonde Jungen zeigt, die mit ihren angeleuchteten Gesichtern bei jedem Casting für ein „The Shining“-Remake gute Karten hätten. Doch auch die Arbeit „Mummenschanz“, in der fünf in weiße Gewänder mit Spitzhut gehüllte Figuren mit langen blonden Bärten den Betrachter bedrohlich anstarren, als würden sie gleich auf ihn zu rennen, bleibt in Erinnerung.
Außerdem sind noch Teodora Axente, Richard Wathen, Sergiu Toma und der Däne Per Morten Abrahamsen in der Ausstellung vertreten. Letzterer beeindruckt mit sechs Werken aus der Fotoserie „Plastic“, die berühmte dänische Persönlichkeiten jeweils mit einer mit Wasser gefüllten Plastiktüte über den Gesichtern zeigt, als würden sie gleichzeitig ersticken und ertrinken. Ist das wahnsinnig? Viele der Bilder sind auf jeden Fall eines: wahnsinnig beeindruckend.
Weitere Informationen
„Madness“ ist vom 13. Oktober 2019 bis zum 16. Februar 2020 in der Galerie im Park am Klinikum Bremen-Ost, Züricher Straße 40, zu sehen. Mittwoch bis Sonntag, 11 bis 18 Uhr.