
Trude macht nicht auf. Die arme Ilse Kanuschke weiß nicht, ob sie sich ärgern oder sorgen soll. Resigniert steigt die 80-Jährige die steile Treppe wieder hinunter und setzt sich auf die Bank vor dem Haus, um gemeinsam mit dem Publikum auf ihre Freundin zu warten, die nicht kommen wird. Trude, wir ahnen es, ist ein weiblicher Godot, das Warten Programm. Und Ilse Kanuschke heißt im echten Leben Anja Gessenhardt. Die Treppe ist ein Pfahl, die Tür Bremer Luft. Nur die Pralinen und die Wolken sind echt.
Das Publikum der Reihe „Von Nord nach West“ kommt im Juli dienstagabends in den Genuss ganz neuer Nummern. Nur Ilse sieht alles andere als taufrisch aus. Krummbeinig und nach vorne gebeugt humpelt sie übers Pflaster, um sich dann im Schneckentempo eine Vertikalstange hinauf zu bewegen. Vorwärts, seitwärts, innehaltend, wie nichts, als wäre kein einziger gut trainierter Muskel beteiligt, als gäbe es die Schwerkraft nicht, die den Menschen mit jedem Lebensjahr mehr und mehr zu schaffen macht.
Was auch immer Ilse tut, sie tut es langsam, ihrer Rolle angemessen. Nur wenn sie stürzt, geht es beängstigend schnell, mit dem Kopf zuerst nach unten. Das ist der Moment, in dem das amüsierte Publikum die Luft anhält. Wieder dehnt sich die Zeit wie ein Stützstrumpf, werden Sekunden zu Minuten. Ein bisschen ist es wie beim Stehen an der Bahnschranke, wenn die Zuschauer ihr Ziel, die Schaulust am Güterbahnhof, schon fast vor Augen haben. Mit einem Unterschied: Der Zug kommt irgendwann. Aber Trude nicht.
Langsam dämmert Ilse, was los ist. Nicht etwa mit ihrer Freundin Trude, sondern tragischerweise mit ihr selbst. Von jetzt auf gleich wissen politisch Korrekte nicht mehr, ob sie weiter lachen oder doch eher mitleiden sollen: Darf denn Demenz komisch sein? Ist es tröstlich zu wissen, dass Ilse vergisst, was sie jetzt erschreckt, dass sie wiederkommen und die Zuschauer aus purem Trotz mit Schokolade füttern wird, auf die Taschenuhr starren und sich wundern? Jeden Tag aufs Neue. Punkt acht, und immer auf der Geige und anderen Instrumenten begleitet von ihrer Partnerin Isabel Janke, erst in Bremen, dann in Osnabrück, dann in Mülheim an der Ruhr, dann in Löhne. Das ist die Route der Premierentournee, die Markus Siebert (Clown Knäcke) aus dem Fesenfeld zusammengestellt hat. An vier Abenden im Juli gibt er in Bremen den Conferencier.
In seiner Werkstattreihe schwant auch dem letzten Laien, wie viel Profisein im tüddelig Erscheinen steckt. Einer der Künstler des zweiten Abends hat das sogar zu seiner Philosophie gemacht. „Wenn etwas schiefgeht, dann mit Absicht“, verkündet Conrad Edwin Wawra, und das gilt auch für seinen Künstlernamen: „Kaosclown“ nennt sich der Pyrotechniker, der sein Handwerk wirklich und wahrhaftig an der Dresdener Sprengschule gelernt hat. Wawra, Alleinunterhalter, Clown, Zauberer und Jongleur in einer Person, stammt wie Anna Gessenhardt aus Erfurt. „Lachenmachen“ ist seine Leidenschaft. „Ich kann mir keine schönere Arbeit vorstellen“, schreibt er über sich im Internet. „Ich liebe es, Clown zu sein!“
Der Applaus ist ihm sicher, ganz egal, ob etwas danebengeht – und es geht zur Freude des Publikums so einiges daneben –, ob etwas klappt oder ob etwas, von dem man meinte, es sei danebengegangen, eben doch Absicht war und sich Selbstironie ganz schnell in Häme oder Triumph verwandelt.
Als habe jemand am Regler gedreht, wird es nach der Pause lauter, hektischer und nicht ganz ungefährlich für die erste Reihe. Weiter hinten sitzen die, die wissen, warum: Berufskollegen wie Friedrich der Zauberer, Andy Wallace, Clown Knäcke, Uli Baumann (Erika/Babette), Silke Schirok, Christine Thevissen und einige mehr aus der Bremer Kleinkunstszene haben sich unter die Zuschauer gemischt. Mit den Augen von Profis sehen sie dem „Kaosclown“ dabei zu, wie er sich auf einem Einrad abstrampelt, das ein separates Vorderrad mit Lenker hat, wie er mit den echten Tücken seiner Fernbedienung kämpft, sich beinahe selbst auf den Mond schießt und das Feuerzeug, um das er gebeten hat, in seiner Sammlung verschwinden lässt.
Wer zuletzt lacht, sagt man, hat den Witz nicht verstanden. Wer zuerst lacht, hat ihn sich ausgedacht. Conrad Edwin Wawra verkohlt seine Zuschauer nach allen Regeln der Straßenzirkuskunst, mit etwas Pech aber auch seine Haare („Berufsrisiko!“), die ihm ohnehin schon zu Berge stehen. Im Laufe seiner Show probiert er sein ganzes Arsenal an Zauberzubehör aus, zündet Feuerwerkskörper und redet, redet, redet ohne Punkt und Komma, wie ein Vertreter für Wundermittel, wie ein Karussellbetreiber auf dem Jahrmarkt. Was hatten wir noch nicht, was probieren wir noch mal? Viel Bewährtes ist dabei, aber das stört nicht weiter. Manche Tricks gehen immer. Und immer wieder.
Mal ehrlich, hat wirklich jemand geglaubt, dass der Tischtennisball ganz von allein auf seiner Nase klebt? Der Thüringer „Kaosclown“ amüsiert sich köstlich über die Bremerinnen und Bremer, die selbst dann noch staunen, wenn etwas wirklich kein Zauberkunststück ist.
Wie Anna Gessenhardt hat Wawra seinen Beruf von der Pike auf gelernt. Wer es der Akrobatin nachtun und auch einmal eine Vertikalstange hochlaufen will, kann Kurse bei ihr belegen. Bei Wawra beginnt der Unterricht noch während der Show.
Vier Mädchen und Jungen gehen am Güterbahnhof bei ihm in die Lehre, lächeln, halten still, wenn es darauf ankommt, schauen nach vorne ins Publikum und ahmen ansonsten einfach alles nach, was der gestreifte Meister ihnen vormacht. Oder sagen wir: Fast alles. Als Johann, den Mund voller Wasser, eine Fontäne ins Publikum speien soll, sieht er Wawra an und schüttelt den Kopf. So etwas macht er nicht. Erst recht nicht mit Absicht. Applaus für Johann! Ein Clown ist geboren.
Ob Bahnhof, Marktplatz, Weserstadion oder Schlachte: Das Bremer Stadtbild hat sich im Laufe der Zeit erheblich verändert. Wir berichten über vergessene Bauten, alte Geschichten und historische Ereignisse.
Welcher Verein wann in Bremen oder der Region spielt und wie die Begegnung ausgegangen ist, erfahren Sie in unserem Tabellenbereich. Auch die Ergebnisse der Spiele der höheren Ligen finden Sie dort.
job4u ist die regionale Plattform, wenn es um Lehren und Lernen geht. Neben dem WESER-KURIER, der Handelskammer und der Handwerkskammer Bremen machen sich hiesige Firmen für junge Leute stark.