
Herr Zachcial, wann hatten Sie das letzte Mal das Gefühl, dass die Menschheit aus ihrer Geschichte gelernt hat?
Michael Zachcial: Die Menschheit an sich lernt, denke ich, ständig aus ihrer Geschichte. Die Frage ist, in welchem Umfang und ob alle in gleichem Maße. Ich glaube ja, dass die Wohlhabenden und Reichen sehr wohl aus der Geschichte gelernt haben. Diejenigen, die nicht profitiert haben von der Entwicklung, müssen diese Lektion vielleicht noch nachholen.
Mit den Liedern eines Lebendigen, der neuen CD der „Grenzgänger“ nach Texten von Georg Herwegh?
Ich sag mal so: Um aus der Geschichte lernen zu können, muss man Zugang zu bestimmten Informationen haben. Da ist Georg Herwegh jemand, der vom Literaturbetrieb und auch von den bürgerlichen Medien eher verschwiegen wird.
Aktiv verschwiegen?
Aktiv verschwiegen. Da müssten wir über Vermarktung von Kultur reden und darüber, warum bestimmte Inhalte nicht aufgegriffen werden. Das hat weniger mit Zensur zu tun, sondern mehr damit, warum manche Themen als relevant angesehen werden. Es gibt bei Journalisten eine Schere im Kopf: Das brauch ich meiner Redaktion gar nicht anzubieten, das krieg ich eh nicht durch. Da geht es auch um Einschaltquoten und um Massenkompatibilität. Was massenkompatibel ist, darüber entscheiden diejenigen, die durchaus aus der Geschichte gelernt haben. Niemand hätte einem 24-Jährigen zugetraut, einen der größten literarischen Erfolge des Jahrhunderts hinzulegen, was Georg Herwegh trotz der Zensur geschafft hat – und damit das revolutionäre Klima in Europa ordentlich angeheizt hat.
Wie und wo haben Sie den Poeten und Rebellen Herwegh wiederentdeckt?
Ich habe einige seiner Texte als Schüler gelesen, allerdings nicht im Unterricht, sondern außerhalb der Schule, es gab ein Reclam-Bändchen. Seit einigen Jahren wird an einer wissenschaftlichen Edition gearbeitet, die das vollständige Werk beinhaltet. Außerdem hat Dirk Kurbjuweit, ein Spiegel-Redakteur, gerade eine Biografie über Herweghs ebenso außergewöhnliche Lebensgefährtin Emma veröffentlicht („Die Freiheit der Emma Herwegh“, Anmerkung der Redaktion).
Als Schüler Herwegh zu lesen, war in den Achtzigern sicherlich etwas Besonderes.
Hm, ja. Das ist es heute auch noch.
Und dann ist er in der inneren Versenkung verschwunden – oder hatten Sie den Plan, eine CD über ihn zu machen, schon länger?
Es gab immer schon die Idee, sich intensiver mit Georg Herwegh zu beschäftigen, und sein 200. Geburtstag war der Auslöser. Und natürlich die Aktualität seiner Themen.
Als da sind...
...die Leidenschaft zu lieben und zu leben in erstarrten Verhältnissen und der Zorn einer ganzen Generation über die Nichtteilhabe am gesellschaftlichen Reichtum.
Und auf die fehlende Meinungsfreiheit?
Das kann man ja heute nicht konstatieren, dass wir fehlende Meinungsfreiheit haben in Deutschland.
Aber in der Türkei.
In Deutschland ist die Armut das größere Thema. Jede Studie besagt: Arm geboren bleibt arm.
Wie kommt Herweghs Zorn beim Publikum an, auch bei Jugendlichen?
Nun, das Album gibt es ja erst seit ein paar Wochen, und wir führen das Programm in Bremen zum ersten Mal auf. Ich habe einige Reaktionen bekommen, auch von Dirk Kurbjuweit: „Wunderbar, großartig“, hat er geschrieben. Im Bayerischen Rundfunk waren die „Lieder eines Lebendigen“ die CD der Woche, und das Album ist für den Preis der deutschen Schallplattenkritik nominiert.
Auf der preisgekrönten CD „Maikäfer flieg“ über den Ersten Weltkrieg wirkt der Kontrast zwischen Aussage und Form deutlich stärker, der Bruch zwischen fröhlichen Stücken und dem ernsten bis sarkastischen Text. Man möchte tanzen und scheut davor zurück. Bei den Liedern eines Lebendigen kommt der Zorn oder die Bitterkeit stärker heraus, das Kämpferische.
Diesmal haben wir alles live eingespielt und ein Konzert mitgeschnitten. Von daher fehlen Schlagzeug, Bass, E-Gitarre, Trompete – dennoch reicht ja die Bandbreite wieder von Folk, Jazz, Klassik bis zu Rock und Pop. Es gibt einige Vertonungen, die aus der Zeit selber stammen, überwiegend sind es aber Neu-Vertonungen. Wir haben geguckt: Was passt zu den Liedern, was unterstreicht die Aussagen, was macht den Blickwinkel größer, als es nur der Text hergibt?
Es ist kein Zufall, dass einiges auf der CD nach Rio Reiser klingt.
Rio Reiser hat immer auch historische Stücke wie „Auf einem Baum ein Kuckuck“ auf seinen Konzerten gesungen. Sein Künstlername Reiser verweist ja auch auf Anton Reiser von Karl Philipp Moritz, einen Roman aus der Zeit der Französischen Revolution. Er handelt von einem jungen Mann, einem Lehrling aus armen Verhältnissen, der eben nicht teilhaben kann an den Reichtümern seiner Zeit. Und genau da ist ja auch die Brücke zwischen Rio Reiser und Georg Herwegh.
Die Rebellion dagegen macht die beiden zu Helden der Arbeiterklasse, zu „Working class heroes“, wie John Lennon sie besungen hat?
Ja, würde ich sagen, unbedingt. Georg Herwegh hat die mögliche Karriere und sein persönliches Wohlergehen aufs Spiel gesetzt. Andere haben ihren Frieden mit dem Kaiserreich gemacht und im Alter ihre Pension bekommen. Herwegh ist seiner Sache treu geblieben, hat sich nicht korrumpieren, sich nicht kaufen lassen. Das ist das, was Georg Herwegh für die heutige Zeit noch besonders macht und außergewöhnlich.
Das also kann man von Herwegh lernen: Sich treu zu bleiben und sich nicht korrumpieren zu lassen?
Ja, unter anderem.
Und welches Herwegh-Zitat passt dazu?
Mein ganzer Reichtum ist mein Lied.
Das Gespräch führte Monika Felsing.
Ob Bahnhof, Marktplatz, Weserstadion oder Schlachte: Das Bremer Stadtbild hat sich im Laufe der Zeit erheblich verändert. Wir berichten über vergessene Bauten, alte Geschichten und historische Ereignisse.
Welcher Verein wann in Bremen oder der Region spielt und wie die Begegnung ausgegangen ist, erfahren Sie in unserem Tabellenbereich. Auch die Ergebnisse der Spiele der höheren Ligen finden Sie dort.
job4u ist die regionale Plattform, wenn es um Lehren und Lernen geht. Neben dem WESER-KURIER, der Handelskammer und der Handwerkskammer Bremen machen sich hiesige Firmen für junge Leute stark.
Ja, ich sehe Herrn Habeck auch als besseren Kandidaten. Er kennt die Grenzen und Er ist vom Lebenslauf auch kein ...