
Oliver Vrankovicz: Alle Tätigkeiten hängen inzwischen eng mit meiner Arbeit in einem Elternheim, Pinkhas Rosen, zusammen. In Deutschland entspricht dies einer Wohnmöglichkeit für selbstständige und mobile ältere Menschen, wo diese sich einmieten können. Allerdings ist daran auch eine Pflegestation angeschlossen. Dort kann der gesamte Lebensabend verbracht werden. Bevor ich hier begann mit älteren Menschen zu arbeiten, habe ich nach meiner Ankunft in Israel in einem medizinischen Zentrum als Pflegehelfer begonnen. Ich sprach nur schlecht hebräisch, meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt waren somit schlecht. Hierfür brauchte man keine Ausbildung.
Und dann sind Sie irgendwann auf das Elternheim gestoßen?Ja, genau. Ich hörte von einem Heim, in dem sehr viele deutsche Juden leben. Das hat mich sofort total interessiert. Die Organisation für Einwanderer mitteleuropäischer Herkunft betreibt dies in der israelischen Stadt Ramat Gan. Hier lebten zu Anfangs nur Menschen, die Deutsch als Muttersprache hatten und in den 1930er-Jahren, also vor dem Holocaust, aus Deutschland geflohen sind. Hier kam ich natürlich gut unter, da ich fließend Deutsch spreche. Meine Erwartungen sind in den letzten acht Jahren, übertroffen wurden: Es war noch viel interessanter und spannender als ich es mir vorgestellt hatte.
Wer lebt heute dort?Am Anfang waren es nur kulturdeutsche Juden, also aus Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei. Viele Juden, die damals kamen, haben ihr Leben lang bevorzugt Deutsch gesprochen. Sie sind sehr kulturverbunden gewesen. Die Heime boten dementsprechend auch ein Kulturprogramm für das Bildungsbürgertum. Die Kriterien wurden inzwischen aufgeweicht. Vor einigen Jahren öffnete sich das Heim auch anderen Einwanderergruppen, vor allem Holocaust-Überlebenden aus Osteuropa.
Welchen Einfluss hatten diese Menschen auf den Staat Israel bis heute?Einen großen. Es ist in Deutschland kaum bekannt, was aus den Geflüchteten der ersten Stunde wurde. Sie sind zu Mitbegründerinnen des Staates Israels geworden, den sie mit den liberal-westlichen Einflüssen prägten. Die deutschen Juden haben überproportional viel beigetragen. Es waren nur 55 000 Menschen, die aber sehr viel bewegt haben. Später kämpften sie zusammen mit Überlebenden des Holocausts im Befreiungskrieg. Sie lernten eine wichtige Lektion: Nie wieder dürfen Juden vom Schutz anderer abhängig sein. Viele der heutigen Ereignisse werden nur durch diese Erfahrungen erklärbar. Der Wille zur militärischen Überlegenheit ist ein Erbe des Holocausts.
Hat sich auch hier der Kontakt mit dem Thema des Holocausts ergeben?Ich habe, bevor ich begann in der Bücherei zu arbeiten, 60 bis 70 Stunden die Woche in dem Elternheim gearbeitet. Die Arbeit ist sehr schlecht bezahlt, ich musste somit lange dort arbeiten, um über die Runden zu kommen. Regelmäßiger und enger Kontakt zu den Menschen dort entwickelte sich. Sie erzählten mir Dinge. Irgendwann fing ich an, Sachen zu notieren. Viele der Bewohner öffnen sich mir zum Teil mehr als den nächsten Familienangehörigen. Sie haben hier wohl weniger Scham. Und jetzt wo sie wissen, dass das Leben zu Ende geht, möchten sie aus ihren Erinnerungen berichten. Sie haben Angst, dass der Holocaust geleugnet wird. Das treibt sie um. Sie bekommen allerlei aus den Medien mit und glauben, dass irgendwann, alles vergessen sein könnte und nicht mehr geglaubt wird. Sie wollen Zeugnis ablegen.
Das können erfahrene, intelligente Menschen doch nicht wirklich glauben, oder?Naja, es ist ihre Angst, die große Angst vor dem Vergessen. Auch ich frage manchmal vor Vorträgen, ob die Menschen im Publikum an den Holocaust glauben. Das hat Gründe.
Warum Glauben? Der Holocaust ist doch keine Religion, in der man glaubt oder nicht. Er ist doch eine unbestreitbare historische Tatsache. Ist den Menschen an ihrem Lebensabend denn diese Angst zu nehmen?Ich denke nicht, dass man den Menschen ihre Angst vor dem Vergessen des Holocausts nach Ableben der letzten Zeugen nehmen kann. Dazu sitzt diese Angst zu tief und jeder Hinweis auf Leugnung, die es ja tatsächlich gibt, ist zu erschütternd. Man könnte aber auf jeden Fall damit aufhören, den Holocaust ständig als Referenz heranzuziehen. Relativierung ist eine Vorstufe der Leugnung.
Was ist der Unterschied zwischen Ihnen und einem Historiker oder eines hauptberuflichen Journalisten, der sich mit einem Holocaustüberlebenden in dem Heim unterhält?Die Zeit ist es. Ich habe diese Leute über einen Zeitraum von teils sieben Jahren erlebt und das tagtäglich. Ich erfahre immer wieder etwas, mal mehr, mal weniger. Nicht an jedem Tag, aber eben regelmäßig. Diese Dinge sind oft ungeordnet, chronologisch vertauscht, da die Menschen viele Erlebnisse nicht mehr klar datieren können. Aber über die Zeit fügen sich mit ein wenig Recherche die Fakten zusammen. Es ist wie ein Puzzle, dass ich mit der Zeit zusammensetze. Aus Geschichten wird Geschichte. Diese Zeit und Gelegenheit haben viele spezialisierte Berufsgruppen nicht.
Was treibt Sie dabei an?Ich lebe nicht vom Schreiben. Ich tue das, weil es mir ein Anliegen geworden ist, diese Erinnerungen zu sammeln und für die Zukunft zu bewahren. Mir sind diese Leute wichtig. Ihre Geschichten sind sehr vielfältig, da ist alles Denkbare dabei. Zuerst wollte ich nicht, dass die Leute mir vom Holocaust erzählen. Das war mir alles nicht geheuer, aber irgendwann bekam ich Zugang dazu und inzwischen nehmen die Menschen und ihre Erlebnisse einen großen Teil meines Lebens ein.
Beschäftigen sich die Bewohner mit der aktuellen Politik oder spielen die Ereignisse in der Region und Israels Rolle darin für sie keine Rolle?Doch, jede Woche haben wir Vorträge im Heim, einmal die Woche auch zur tagesaktuellen Politik. Die Haltung der Bewohner ist hierbei auch nicht einheitlich. Aber überproportional viele Leute bei uns sind regierungskritisch. Hätten wir nur Wahlen bei uns, dann sähe die Regierung anders aus. Die meisten sind eher linksliberal. Dies liegt auch an der sozialen Schicht. Die meisten kommen aus der oberen Mittelschicht oder der Oberschicht. Und die ist in Israel generell eher links.
Die Fragen stellte Gerald Weßel.Oliver Vrankovicz,
38 Jahre alt, ist in Esslingen in Süddeutschland aufgewachsen. Er lebt aber seit elf Jahren östlich von Tel Aviv in der Stadt Ramat Gan in Israel. Er ist von Beruf Pflegehelfer und arbeitet zudem für die Wiener Library, dem größten Holocaust Archiv der Welt. Hier ist er für die Katalogisierung digitalisierter Dokumente zuständig. Nebenher schreibt er für verschiedene Zeitungen und Online-Magazine, wie Cicero und die Jüdische Allgemeine über den Holocaust und Erinnerungspädagogik.
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