
Horn-Lehe. Wenn Musch Schnibbe morgens in ihre Nachttischschublade guckte, fand sie darin oft eine Stulle. Eine dicke Scheibe Brot mit viel Schmalz und einer Scheibe Wurst drauf – in einem Schraubglas.
Das Brot musste sie in aller Heimlichkeit essen, um Futterneid zu vermeiden. „Das Hausmädchen sollte nicht mitbekommen, dass ich eine Extrawurst bekam“, erzählt Schnibbe. „Aber ich war als Kind so dünn, dass meine Mutter immer Sorge hatte, ich könne gänzlich vom Fleisch fallen.“ Dass ihre Eltern nach Kriegsende ein Hausmädchen beschäftigten, bedeutete nicht, dass die Familie sonderlich wohlhabend war. „Das war bei uns in der Gegend so üblich“, erzählt Schnibbe. „Es waren Mädchen vom Land, die gegen Kost und Logis im Haushalt halfen.“ Lange habe eine solche Anstellung in der Regel allerdings nicht gedauert, sagt sie. „Die Mädchen wurden meistens nach kurzer Zeit von einem Soldaten schwanger.“
Musch Schnibbe, Jahrgang 1938, ist im Harz aufgewachsen. „Meine Eltern wollten mir damals eigentlich den Namen Ruth geben“, erzählt sie. „Das ist ein jüdischer Name, deshalb wurde er nicht genehmigt. Nur ein Doppelname war gestattet.“ So wurde aus ihr eine Ruth-Ingrid. „Das war meinen Eltern dann aber zu lang und sie nannten mich Muscherl als ich klein war, später Musch.“
"Da wurden dann eben andere Sachen verlauft"
Schnibbes Eltern hatten ein Fachgeschäft für chirurgische Instrumente in Wernigerode, mit denen sie Lazarette und Kliniken belieferten. „Aber irgendwann gab es keine Stahlwaren mehr – da wurden dann eben andere Dinge verkauft“, erzählt sie. Schnibbes Eltern verlegten sich auf Hygieneartikel. Watte, Zellstoff, Damenbinden, „sogar Kondome gab es bei uns zu kaufen“. Bis Kriegsende führte die Mutter den Laden alleine. Der Vater war im Krieg schwer an Tuberkulose erkrankt und verbrachte lange Zeit in Kliniken und Lungenheilanstalten, bis er wieder zur Familie nach Wernigerode kam.
Motto: was auf den Tisch kommt, wird gegessen
Nach Kriegsende lud Schnibbes Mutter ihre Waren oft in den Wagen, um damit über Land zu fahren und bei den Bauern Ware gegen Essbares zu tauschen. Mit etwas Glück bekam sie dafür Eier oder Wurst. Obst und Gemüse baute die Familie im Schrebergarten an. Dass Musch als einziges Kind mit anpackte, war selbstverständlich. „Ich musste meistens beim Umgraben helfen und Pferdeäpfel als Dünger sammeln“, erinnert sie sich.
Hungern mussten sie in der Nachkriegszeit nicht, es galt aber auch bei Schnibbes das Motto: was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Das fiel der Tochter manchmal leichter, manchmal schwerer. Letzteres vor allem dann, wenn als Bratfett nichts anderes als Fischöl zur Verfügung stand. Das sei nicht selten der Fall gewesen, sagt sie und verzieht beim Gedanken daran das Gesicht. Gerade wenn man wie Schnibbe eher fürs Süße war, waren diese Tage hart. „Süße Pfannkuchen in Fischöl gebraten – das schmeckt grauenhaft“, sagt sie. Auch mit Steckrüben war sie nicht unbedingt auf Du und Du, „aber gegessen habe ich sie“. An ihre Grenzen kam sie dagegen, wenn ihre Mutter ihr, dem dünnen Kind, etwas zur Stärkung verabreichte. Das sei wahlweise Lebertran gewesen, „oder ein Eigelb mit Rotwein verquirlt – das galt damals als wahres Wundermittel für die Konstitution“.
Wenn Schnibbes Eltern Milch bekamen, freute sich die Tochter auf Kartoffeln mit Milch. „Das klingt sehr einfach, schmeckte mir aber gut“, sagt sie. Was von der Milch übrig blieb, wurde auf dem Küchenschrank zu Dickmilch und mit Zucker bestreut serviert. „Viele Kinder mochten das – ich leider nicht“, sagt Schnibbe. Dafür mochte sie den für die Region bekannten Harzer Käse. „Ich kann mich entsinnen, dass da hin und wieder Würmer drin waren“, erzählt sie. Aber weggeworfen wurde nun mal nichts. „Die haben wir mit den Gabelzinken herausgepult und den Käse dann gegessen.“
„Häufig haben Hygienevorschriften leider Vorrang vorm Sattwerden“
Wenn sie heutzutage sehe, wie viele Lebensmittel auf dem Müll landen, könne sie nur den Kopf schütteln, sagt sie. Auch, dass Tafeln nicht alles annehmen dürfen, was ihnen angeboten wird, kann sie nicht nachvollziehen. „Häufig haben Hygienevorschriften leider Vorrang vorm Sattwerden“, kritisiert sie. Sie selbst habe bis heute ein Auge darauf, dass kein Essen umkommt. „Weggeworfen wird nichts – das habe ich auch an meine Kinder weitergegeben“, sagt sie. „Als alleinerziehende Mutter musste ich ohnehin sparsam wirtschaften.“ Und wenn doch mal Brot hart geworden ist? „Dann bekommen es die Enten – weggeworfen wird es nicht.“ Besonders lebhafte Erinnerungen hat Schnibbe an die Zeit, als Eiscreme Einzug in die Stadt hielt. „Der Eisverkäufer hatte zwar nur Schoko, Vanille und Erdbeere zur Auswahl, aber das war uns egal – das Eis schmeckte herrlich“, erzählt sie. Als besondere Attraktion im Ort galt zudem kurze Zeit später eine Eismaschine, die von einer Familie zur nächsten verliehen wurde. „Immer dorthin, wo ein Kindergeburtstag anstand – so hatten viele Kinder etwas davon“, sagt Schnibbe.
Während sich die Versorgungslage in Westdeutschland nach und nach entspannte, blieb für Schnibbe vieles weiterhin unerreichbar. „Apfelsinen und Zitronen gab es hin und wieder mal in den HO-Läden – aber die waren für uns unbezahlbar“, sagt sie. Mit Spielzeug habe es nicht viel anders ausgesehen. Schnibbe hatte eine Puppe, und die war selbst gemacht. Was sie an Kleidung brauchte, wurde gestrickt, genäht oder gehäkelt. Was es im Westen für eine Auswahl an Spielsachen gab, erfuhr sie erst 1952 – nach ihrer Flucht. „Mein Vater hatte alles von langer Hand geplant“, erzählt Schnibbe. Nach den Schularbeiten habe sie auf seinen Wunsch hin heimlich Englisch gelernt, damit sie später im Westen besser mitkommt. „Als es so weit war, mussten wir alles zurücklassen, sonst hätten wir uns im Notfall nicht damit herausreden können, dass wir uns beim Spaziergang verlaufen haben“, erklärt Schnibbe. „Das letzte Stück sind wir durch die eiskalte Oker gewatet“, erinnert sie sich.
Erste Banane im Alter von 14 Jahren gegessen
Nach der geglückten Flucht wohnten sie bei Verwandten in Süddeutschland. „Dort habe ich dann meinen ersten Ball geschenkt bekommen und meine erste Banane gegessen – da war ich 14 Jahre alt.“
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