
Neustadt. Dreimal fuhr sie allein mit einem vollgeladenen Passat-Kombi über die Grenze und schmuggelte die Bände nach Bremen. Die Bücher wollte sie retten, wenigstens die Bücher! Alles andere ließen Marianne Christina Schilling und ihr Mann Harald Halgardt in der Nähe von Berlin zurück: Haus und Garten, Möbel und Teppiche, persönlicher Besitz aus 30 prall gefüllten Lebensjahren.
"Ich wollte nur noch zurück nach Bremen", erzählt Schilling, die inzwischen 83 Jahre alt ist. "Ich habe nur eines gedacht: Mir ist alles egal - aber die Bücher müssen mit!" 6000 Bände hatten sie und ihr Mann gehortet, eine kostbare Privatbibliothek. Dazu kamen die sorgsam gesammelten Grafiken der Impressionisten.
Die alte Dame berichtet lebhaft von ihrer dreifachen Flucht in den Westen. Ihr Mann hört zu und erinnert daran, wie sie ihn zwischendurch von einem Parkplatz anrief und kurz davor war, umzukehren, weil ihr vor Angst die Knie schlotterten. Ihre Fracht war inoffiziell, doch sie selbst hatte eine Reiseerlaubnis, weil sie als Schauspielerin auf internationalen Bühnen gastierte.
Dreigroschenoper in Athen
Marianne Christina Schilling trat in Frankreich und Griechenland auf, spielte die Dreigroschenoper am Fuße der Akropolis und stand auch vor der Kamera: In ihrer bekanntesten Filmrolle stellt sie Schneewittchens böse Schwiegermutter dar.
Harald Halgardt hat noch häufiger gedreht. In mehr als 50 Filmen wirkte er mit. Immer wieder verkörperte er Nazi-Figuren wie den fanatischen Arzt Doktor Hellpach in "Professor Mamlock". Er stand mit Manfred Krug in dem Mantel- und Degenfilm "Mir nach, Canaillen" vor der Kamera, spielte bei "Polizeiruf 110" und "Freunde fürs Leben" mit und gab fünfmal den Kaiser Wilhelm. Halgardt und seine Frau wurden als Schauspieler vor allem auf den Bühnen im Osten berühmt. Später arbeiteten sie für die DEFA, für das volkseigene Filmunternehmen der DDR, das etwa 700 Spielfilme und mehr als 2000 Kurz- und Dokumentarfilme hervorbrachte.
Doch die Geschichte der beiden Schauspieler beginnt in Bremen und wird auch von beiden gemeinsam in ihrem Neustädter Wohnzimmer erzählt. Furchtlos fallen sich die Eheleute ins Wort: Jeder muss beim Sortieren der Erinnerungen Kritik einstecken und teilt im nächsten Atemzug energisch aus. Auf lautstarke Empörung folgt aufmerksame Fürsorge füreinander: Zwei Schauspiel-Profis schwelgen in ihren Geschichten und Emotionen. Gemeinsam schmieden sie eine Version ihrer turbulenten Jahre zwischen Ost und West.
Kennengelernt haben sie sich während ihrer Schauspiel-Ausbildung in Bremen, darüber herrscht Einigkeit. Damals war sie 16 und er 18 Jahre alt. Wie oft sie seitdem als Liebespaar zusammen auf der Bühne standen, können beide nicht mehr zählen: Sie als Iphigenie, er als Orest. Sie als Emilia Galotti, er als Prinz von Guastalla. Sie als Luise, er als Ferdinand in "Kabale und Liebe". In den Sechzigern galten Schilling und Halgardt als begabtes junges Schauspieler-Duo, das man bei Bedarf auch im Doppelpack engagieren konnte. "Wir waren das klassische Liebespaar", sagt Schilling. Wie es sich auf ihre Beziehung ausgewirkt hat, Liebeswirren auch auf der Bühne zu durchleben?"Wenn wir zusammen auftraten, gab es meistens Krach", erzählt sie. "Wenn von ihm auch nur ein Wort der Kritik an meiner Darstellung kam, flog ihm auch schon das Buch an den Kopf - da wurde ich zur Wildsau."
Er schüttelt den Kopf und bestreitet das: So schwierig seien die Proben mit ihr gar nicht gewesen. Wie es wirklich war, bleibt das Geheimnis der zwei - wie wohl so vieles in 60 gemeinsamen Jahren.
Nach dem Schauspielunterricht bei Doramaria Herwelly in Bremen jedenfalls ging sie ans Staatstheater in Oldenburg. Bei ihm folgen Engagements an Bühnen in Delmenhorst und Verden. Doch dann lockt Leipzig: Eine Stadt, in der man als junges Schauspielerpaar etwas bewegen kann. Beide gehen 1950 in den Osten, sie gehören zur ersten Generation, die an den Städtischen Bühnen Leipzig spielt. Die DDR ist noch jung, und sie sind es auch. "Wir spielten herrlich Theater und wurden vom Publikum geliebt", erzählt Schilling. "Aber die politische Nummer gefiel uns nicht: Wir kamen ja in ein Land, in dem Stalin der große Held war, der alte Blutsäufer."
Dennoch bleiben sie elf Jahre in Leipzig. Doch die staatliche Einflussnahme auf die künstlerische Arbeit nimmt zu: "Die Regisseure griffen zum Teil sogar aus politischen Gründen in die Texte ein", erzählt Halgardt. "Ich wollte weg aus Leipzig, auch weil wir dort einen erzkommunistischen Schauspieldirektor hatten", sagt Schilling. "Es war ja keine Freiheit in dem Sinne, und darunter haben wir immer gelitten."