
Um halb drei ist es aus mit der Mittagsruhe an diesem Sonntag. Oliver Franz trillert mit seiner Pfeife, und schon setzen zwölf Männer und Frauen ein. Große Trommeln baumeln ihnen vorm Bauch, ihre Hände fliegen blitzschnell über das Fell, jeder Schlag ist der nächste Beat im Rhythmus. Samba! Franz kommt jetzt nach vorne, reißt die Schlagstöcke in die Höhe, den Kopf mit dem bunt geschmückten Hut in den Nacken gelegt. Stille, für einen Bruchteil von Sekunden, und dann rufen sie: „Deich-schart-Kiosk!“
Es ist Sommerfest am Deichschart-Kiosk, und die Samba-Truppe „Acompasso“ macht den Auftakt. Noch sind nicht viele Leute da, ein paar Nachbarn haben es sich auf den Gartenstühlen am Werdersee bequem gemacht, klatschen mit. Immer mehr Radfahrer und Spaziergänger halten an, manche zücken ihre Handys, andere wippen im Takt. Schnell bildet sich eine Menschentraube, die heißen Rhythmen ziehen an, trotz des wolkenverhangenen Himmels.
Claudia Kayser guckt skeptisch nach oben. „Ob es wohl trocken bleibt?“, fragt die Neustädterin stirnrunzelnd. Sie steht am Stand der Circusschule Jokes. Jeden Sonntag von 14 bis 17 Uhr bieten sie auf der Wiese ein aus dem Topf Wohnen in Nachbarschaften (Win) finanziertes Programm an. Bei gutem Wetter kommen viele, vor allem aus der Nachbarschaft. An anderen Tagen ist es eher mau. „Wir hoffen, dass noch mehr Menschen regelmäßig kommen“, sagt Kayser. „Es muss sich noch besser rumsprechen.“
An diesem Sonntag ist die Mitmach-Manege gut besucht. Tano De Blasi steht in der Mitte, er hat ein paar Ringe in der Hand, dreht sie. Vier, fünf Stück, rote, gelbe, blaue, man kann die Farben kaum noch auseinander halten, so schnell wirbelt er sie durcheinander. Dann jongliert er mit ihnen, als wäre es eine Leichtigkeit. „Übungssache“, sagt er zwinkernd. Der 60-jährige Schwachhauser hat Übung: Jahrzehntelang ist er durch Europa gereist und auf den Straßen der Hauptstädte mit seinen Kunststücken und Jonglage-Einlagen aufgetreten. Vor zwei Jahren kam er zur Circusschule Jokes – jetzt will er sein Können an Kinder weitergeben.
Leon ist eines von ihnen. Der Neunjährige aus der Neustadt war eigentlich mit seiner Mutter am Werdersee Inlineskaten, jetzt hat ihn die Neugier zu der Manege gelockt. De Blasi steht hinter ihm, führt Leons Hände, hoch und runter, immer schneller. Leon hält die Handstäbe eines Diabolo-Spiels, versucht, den Doppelkegel auf dem Seil zu balancieren, hochzuwerfen und dann wieder aufzufangen.
Katrin Brox steht ein paar Schritte entfernt und schaut ihrem Sohn zu. „Ich finde dieses Angebot klasse“, sagt die 46-Jährige. „Hier kann man alles mal ausprobieren.“ Auch Fred Thole aus Wildeshausen sieht herüber, sein achtjähriger Sohn versucht sich gerade an der Jonglage, seine zweijährige Tochter sitzt vor ihm auf einem hohen Stuhl und lässt sich schminken. Der 43-Jährige kannte den Deichschart-Kiosk vorher nicht. „Aber das ist eine tolle Sache“, sagt er. „Wir werden bestimmt noch mal wieder hierher kommen.“ Das ist auch der Hintergrund des Sommerfestes, sagt Anke Bayer-Thiemig. „Wir wollen, dass der Kiosk noch bekannter wird“, betont die Leiterin des Projekts des Beschäftigungsträgers Bras. 20 Menschen zwischen 18 und 25 Jahre nehmen an der Maßnahme „Reif für die Ausbildung“ aktuell teil. Sie haben oft aufgrund ihrer Familiensituation, Suchtproblemen oder schlechte Noten keine Ausbildungsstelle bekommen und arbeiten nun im Verkauf mit, um Grundwissen zu steigern und ihr Potenzial zu entdecken. Für die meisten sei das eine wichtige Chance. „Viele haben nie die Möglichkeiten bekommen, sich zu beweisen“, weiß Bayer-Thiemig.
Über das Projekt haben sie nicht nur eine Aufgabe und bekommen über Betriebsbesichtigungen und andere Praxisangebote interessante Einsichten, sondern entwickeln auch neues Selbstbewusstsein, entdecken, wo ihre Stärken liegen. Einer von ihnen habe sogar vor Kurzem noch mit einem Aushang am Kiosk nach einem Ausbildungsplatz gesucht. „Jetzt hat er eine feste Lehrstelle.“
Doch das Beschäftigungsprojekt könne nur funktionieren, wenn es Kunden gebe. Zu denen gehören Schüler auf dem Weg zur Schule genauso wie Spaziergänger, oft kommen sie jedoch nur vereinzelt. „Wir haben hier keine Laufkundschaft im klassischen Sinn“, sagt Bayer-Thiemig. Deswegen müsse man sich mit Projekten und Aktionen wie dem Sommerfest immer wieder in Erinnerung rufen.
Oliver Franz will dazu beitragen, dass das Publikum den Kiosk nicht gleich wieder vergisst. Er läuft durch die Stuhlreihen, mit weit aufgerissenen Augen, und sieht das Publikum eindringlich an. „Gleich Deichschart-Kiosk rufen“, brüllt er, während seine Truppe weiter trommelt. Dass sie sozusagen Last Minute eingesprungen sind, und das Ensemble innerhalb von sieben Stunden zusammenstellen mussten, hört man nicht. Dafür hört man sie: rhythmisch trommelnd, laut rufend: „Deich-schart-Kiosk!“ Es schallt noch weit in den Buntentorsteinweg hinein.
Der Kiosk am Deichschart macht keine Winterpause. Das nächste Fest ist das Herbstfest am
1. November von 14 bis 18 Uhr. Die Circusschule Jokes ist bei gutem Wetter jeden Sonntag von 14 bis 17 Uhr vor Ort.