
Die Idee ist einfach: „Mittels Literatur wollen wir unser eigenes Leben mit dem anderer und der Welt in Verbindung bringen“, sagt Kerstin Graumann. Sie leitet die erste Shared-Reading-Gruppe in Bremen, die im Quartierszentrum Huckelriede an den Start ging. Beim Shared Reading werden ausgewählte Texte in einer kleinen Gruppe laut gelesen. Ein sogenannter Facilitator sucht die Literatur aus, stellt nach dem gemeinsamen Lesen der Texte Fragen und ermöglicht Austausch und Begegnung in einem geschützten Raum.
„Wir lesen heute eine Geschichte und danach ein Gedicht. Und nach jeder Vorlesephase gibt es eine kurze Ruhezeit, um eigenen Gedanken und Gefühlen Raum zu geben“, sagt Kerstin Graumann. Zur Shared-Reading-Gruppe im „Alten Gemüseladen“ sind vier Frauen gekommen, später gesellt sich ein Mann dazu.
Worte üben durch die Musikalität der Sprache Gefühle aus, sie lassen Bilder aufsteigen, sie können aber auch Verbindungen zum eigenen Leben, zu Erinnerungen und Erlebnissen wachrufen. Bei guter Prosa und Lyrik sind solche Impulse besonders intensiv - und in der Gruppe, die sich gemeinsam den Texten widmet, entsteht die Gelegenheit, sich darüber auszutauschen. So auch in der Kurzgeschichte „Dämmerung“ von James Salter (1925-2015), US-amerikanischer Autor. Nachdem zwei Seiten vorgelesen sind, macht sich unter den Teilnehmern eine nachdenkliche Stimmung breit: Es geht um Mrs. Chandler, eine Frau, die offenbar abseits und allein im Leben steht. Einst von vielen begehrt, fühlt sie sich nun überflüssig.
Die Shared-Reading-Gruppe versucht, ihre Lebenssituation zu klären: Mrs. Chandler wurde von ihrem Mann verlassen, und die nächsten Seiten zeichnen weitere Konturen ihres schrecklichen Schicksals: Sie erinnert sich, wie sie mit ihrem Kind eine Gans betrachtet hat, die sich vor ihr Haus verirrte, und sie spricht aus, dass sie auch ihren Sohn verlor. „Es ist besonders schlimm, wenn man auf solche Weise getroffen wird, ohne darauf vorbereitet zu sein“, sagt eine Teilnehmerin.
Ihre eigenen Gedanken und Erinnerungen werden von den anderen aufgegriffen: „Ich hab` beim Lesen des Textes eine Gänsehaut bekommen“, sagt eine weitere Frau in der Gruppe. Wie fühlt man sich, wenn das Schicksal wie bei Mrs. Chandler zuschlägt und man wie betäubt dasteht? Zieht man sich zurück, oder stürzt man sich wieder ins Leben? Mrs. Chandler wird von einem Mann besucht, mit dem sie einmal ein Verhältnis hatte.
Doch der hat sich mit seiner Frau wieder versöhnt, und Mrs. Chandler steht noch einsamer da. Im abschließenden Bild der Kurzgeschichte fühlt sie sich wie die Gans, die blutüberströmt vor ihrem Haus liegt – aller Lebenskräfte beraubt.
Manche der Teilnehmerinnen können Ähnliches berichten: von Erfahrungen, die tief enttäuscht haben, bei denen starke seelische Schmerzen zugefügt wurden – das gelesene Stück Literatur wird mit dem eigenen Leben verwoben, und der Text ruft Geschichten hervor, die in einem selber stecken.
Das abschließende Gedicht „Versöhnung“ von Rose Ausländer (1901-1988) bildet einen scharfen Kontrast zur melancholischen Kurzgeschichte von James Salter und ruft die gegenteiligen Gefühle wach: die Freude über die morgendliche Natur. Der Regenbogen funkelt im Tau, und da ist die pure Lust, ein argloser Mensch sein zu dürfen. In der Shared-Reading-Gruppe kommen Erinnerungen hoch: Habe ich nicht auch manchen Morgen auf der Terrasse gesessen und den Stimmen der Vögel gelauscht? „Ich nehme jeden Tag wie ein Geschenk dankbar an“, sagt eine Teilnehmerin.
Es gibt keine akademischen Diskussionen über den literarischen Wert der Texte. Vielmehr liefert die Literatur Impulse, das eigene Leben zu reflektieren und miteinander ins Gespräch zu kommen. Shared Reading befördert den interkulturellen Austausch, stärkt die soziale und kulturelle Teilhabe und fördert persönliche Begegnungen. Das gemeinsame Lesen und Darüberreden stärkt Selbstvertrauen, Resilienz, Empathie und Toleranz.
„Jeder kann seine eigenen Erfahrungen einbringen, und im Austausch lernt man leicht neue Menschen und ihr Leben kennen“, sagt Kerstin Graumann, die das Projekt auch bereits mit Demenzkranken erfolgreich realisiert. Dabei wurden Gedichte behandelt, um die Teilnehmer nicht mit zu langen Texten zu überfordern.
Die Idee des Shared Reading entstand vor mehr als 15 Jahren in Liverpool. Inzwischen wird es dort in über 400 Gruppen angeboten. In Deutschland sind Shared-Reading-Netzwerke in Berlin, Frankfurt und Heidelberg entstanden. In Bremen wurde die Idee im September 2018 während einer Integrationswoche aufgegriffen, wird bisher aber nur in Huckelriede umgesetzt. „Wenn es gut läuft, soll Shared Reading künftig auf Quartierszentren in anderen Stadtteilen ausgeweitet werden. Wir wollen dabei ausdrücklich auch Migranten einbeziehen“, sagt Kerstin Graumann.
Die Gruppe Shared Reading trifft sich jeden dritten Mittwoch im Monat (also auch am 20. März) von 18 bis 19.30 Uhr im Quartierszentrum, Niedersachsendamm 20a, seit Kurzem auch jeden ersten Mittwoch im Monat um 18 Uhr im Alten Gemüseladen, Niedersachsendamm 42. Die Teilnahme ist kostenlos.