
Der Strand lässt auf sich warten an diesem schwülen Mittwochmittag, doch im Gemeindezentrum Matthias Claudius wird zum Trost sanfter Engel gereicht – Vanilleeis mit frischem Orangensaft. Schon vor einer halben Stunde hätte der Laster mit den 7,5 Tonnen Sand da sein sollen, die den runden Platz am Kirchturm bis Ende August in einen Strand verwandeln werden – mitten im Herzen der Gartenstadt Süd.
Mit dem Projekt möchten die Beteiligten einen Freiraum schaffen, in dem die Kinder des Stadtteils „einen kleinen Urlaub zu Hause“ erleben können, erzählt Birgit Locnikar, Pastorin der Vereinigten Evangelischen Gemeinde Bremen-Neustadt. Der Sandstrand ist Teil einer Initiative des Neustädter Beirats mit dem Ziel, mehr Begegnungsorte im Stadtteil links der Weser zu schaffen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Gartenstadt Süd, die in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag feiert. Zur Zeit ihrer Entstehung handelte es sich um einen besonders fortschrittlichen Ortsteil; den ersten mit fließend Warmwasser und Zentralheizungen in allen Häusern, erzählt Angela Wilhelms von der Stadtland+ GmbH. Damals hätten die Bewohner eine große Verbundenheit mit ihrem Stadtteil gehabt, diese Identität habe in den vergangenen Jahren aber nachgelassen. So habe sich auch das Leben der Menschen zunehmend von der Straße in die geschlossenen Räume der Häuser verlagert. „Dieser Entwicklung wollen wir mit solchen Angeboten etwas entgegensetzen“, sagt Wilhelms.
Für die Kinder in der Gartenstadt Süd soll der Sandstrand an der Wilhelm-Raabe-Straße 1 eine nahe gelegene Alternative zu teuren Urlaubsreisen darstellen. Denn in dem Stadtteil wohnten heute viele alleinerziehende Mütter, von denen ein großer Teil Sozialhilfe beziehe, erzählt Pastorin Locnikar. Diese könnten es sich häufig nicht leisten, mit ihren Kindern wegzufahren. Ein Sandstrand in der Nachbarschaft sorge da für eine willkommene Abwechslung und biete einen Ort, an dem sich die „Kinder aus dem näheren Umfeld tummeln“ könnten, sagt Locnikar.
Als es auch noch anfängt zu regnen, wird es drinnen erst richtig gemütlich und der Lautstärkepegel steigt merklich an. Denn im Gemeindezentrum ist nicht nur eine Kita untergebracht: Das ehemalige Kirchengebäude dient zudem als Begegnungsort und bietet Platz für unterschiedliche kulturelle Projekte. Während es im ersten Raum nach Spargel riecht und auf den Tischen kleine Schälchen mit Speckwürfeln stehen, ist im zweiten Raum das Büfett des internationalen Frauencafés aufgebaut: Auf dem gedeckten Tisch stehen Teller mit Gurken, Tomaten und selbst gemachte Falafel.
Das internationale Frauencafé ist Teil des Kulturcoachprojekts, das seit Oktober 2018 für drei Jahre läuft und das Ziel verfolgt, einen Austausch zwischen Migranten, Geflüchteten und Einheimischen herzustellen. Geflüchtete Frauen können sich hier zu Kulturcoaches ausbilden lassen und dazu an Workshops, beispielsweise zum deutschen Gesundheits- und Bildungssystem, teilnehmen. Auch für den Umgang mit der Bürokratie werden die zukünftigen Kulturcoaches geschult. So sollen die Frauen, die die Workshops besuchen, später dazu in der Lage sein, ihr Wissen an andere Geflüchtete weiterzuvermitteln.
Die Idee beim internationalen Frauencafé sei es, „dass beide Seiten einander erleben“, erzählt Locnikar. Die Frauen aus Deutschland, Syrien, Ägypten und anderen Herkunftsländern zeigten sich im internationalen Frauencafé gegenseitig wie sie kochen, wie man sich in den unterschiedlichen Kulturen höflich benimmt und miteinander umgeht.
Eine der Frauen, die sich ehrenamtlich am Kulturcoachprojekt beteiligt, ist Ubbina Lindstedt. „Das Frauencafé ist einfach gut – für die Menschen mit Migrationshintergrund und auch für jeden, der dazukommen möchte“, sagt die Bremerin. Und weiter: „Ob die Frauen ein Kopftuch tragen oder nicht, das ist Nebensache. Es wird keiner schräg angeguckt.“ Auch Frauen aus anderen Stadtteilen kämen hierher, „weil sie sich hier wohl fühlen“, erzählt Lindstedt. Das Miteinander und gemeinsame Aktivitäten wie Ausflüge würden den geflüchteten Frauen außerdem dabei helfen, die deutsche Sprache zu lernen.
Auch Nahed Helal und Muntana Othman aus Syrien kommen regelmäßig ins internationale Frauencafé, um dort deutsch zu sprechen, zu kochen und gemeinsam zu essen. „Wir sind wie eine Familie“, sagt Othman. „Alle zusammen machen Essen, gehen spazieren, machen Ausflüge“, erzählt sie, während Lindstedt ihr den Arm um die Schulter legt und dabei hilft, die richtigen Worte auf Deutsch zu finden. Verstehen könnten sie schon sehr viel, doch das Sprechen falle ihnen zum Teil noch schwer, sagen die Frauen. Othman ist passionierte Köchin und kommt ins Schwärmen, als sie von der arabischen Küche berichtet. Ob sie auch deutsches Essen mag? Spargel zum Beispiel? „Sehr lecker“, kommt die überzeugte Antwort.
Pünktlich zum Erscheinen des Lasters hat es aufgehört zu regnen und der Sand rutscht von der Ladefläche auf das Rondell, schüchtern beäugt von den Kindern der Matthias-Claudius-Kita. Ein wenig gutes Zureden braucht es noch, dann ist der Bann gebrochen: Mit Spaten, Schaufeln und den eigenen Händen machen sich die Kinder, ihre Eltern und Mitwirkende am Kulturcoachprojekt daran, den Sand gleichmäßig zu verteilen. Es dauert nicht lange und der Steinboden gleicht tatsächlich einem kleinen Strand, selbst einen Strandkorb hat man organisieren können.
In den nächsten Wochen wird der Sandstrand als Schauplatz zahlreicher Veranstaltungen anlässlich des 60. Geburtstags der Gartenstadt Süd dienen. Höhepunkt der Festlichkeiten ist das Sommerfest am 29. Juni, zu dem alle Bewohner der Neustadt eingeladen sind. Das Fest beginnt um 15 Uhr mit einem Open-Air-Gottesdienst, danach gibt es Konzerte von Liedermachern und Bands, deren Musik wohl so vielseitig sein wird wie die kulturellen Hintergründe im Gemeindezentrum. Angekündigt sind unter anderem Balkanmusik und -tanz, eine Ska-Band, Sambatrommeln, ein Streicher-Ensemble und viele weitere Programmpunkte. Unterstützung erhalten die Organisatoren dabei von der Arbeitsgruppe „Viva la Piazza“, deren Ziel es ist, ein besseres Miteinander und mehr Begegnungen im Stadtteil auf den Weg zu bringen. Dazu haben sich Künstler, Anwohner und Geschäftsleute aus der Neustadt zusammengetan.
Beim Sommerfest wird nicht nur das Jubiläum der Gartenstadt Süd gefeiert. Auch die Vereinigte Evangelische Gemeinde Bremen-Neustadt kann einen runden Geburtstag verkünden. Die Gemeinde mit dem langen Namen entstand 2009 durch die Zusammenlegung der Kirchengemeinden Matthias Claudius, Zion und St. Pauli. Eigentlich hatte man die neue Gemeinde „Marzipan“ nennen wollen, nach den Anfangsbuchstaben der fusionierten Gemeinden; doch der Vorschlag wurde zugunsten eines streng sachlichen Namens abgelehnt. Schade eigentlich, findet Pastorin Locnikar, denn: „Ich persönlich mag ja Marzipan.“