
Rapper Romeo Gitano ist für ein Konzert in den Schlachthof zurückgekommen, wo seine Karriere einst begann. Doch seine Musik wird von den Stimmen und Melodien der Vergangenheit übertönt. Die Geschichte ist erfunden, doch es ist wahr: Vom Bremer Schlachthof aus wurden im März 1943 mehrere Hundert Menschen in ihr Verderben geschickt. Ein musikalisch-dokumentarisches Theaterstück, das am 19. März im Schlachthof uraufgeführt wird, macht die Schicksale von Hunderttausenden Sinti und Roma gegenwärtig.
„Der Schlachthof ist der einzige Friedhof, den wir haben“, sagt die Stimme, die von der „bösen Zeit“ erzählt: Sie gehört dem 83-jährigen Schauspieler Rolf Becker, der sofort bereit war, an der Produktion mitzuwirken, erklärt Ralf Lorenzen. Bei seiner ersten Bühnenproduktion wurde der Autor und Journalist von Dany Handschuh unterstützt. „Die Sinti haben das Recht, ihre Geschichte zu erzählen“, sagt die Dramaturgin im Theater Bremen. „Und wir haben die Pflicht, zuzuhören.“ Hauptdarsteller Romano Hanstein, Komponist Dardo Balke und alle Mitglieder seines musikalischen Ensembles sind Nachkommen von Auschwitz-Überlebenden. Mit dabei ist auch der Chor der Oberschule Findorff unter der Leitung von Daniel Akkermann. Denn unter den Opfern waren auch mindestens drei Findorffer Schulkinder. Die Bremer Schauspielerin Sissi Zängerle spielt nicht nur Romeos Managerin Jule: Sie verkörpert alle, die viel zu wenig über die ungeheuerliche Geschichte der Sinti und Roma wissen.
Titelgebend sind die Tage vom 8. bis 10. März 1943. In einer konzertierten Aktion wurden rund 300 Sinti und Roma aus Bremen und dem Weser-Ems-Gebiet aus ihren Wohnungen verschleppt und in einer leer stehenden Halle auf dem Schlachthof-Gelände zusammengepfercht. Das „Zigeunerdezernat“ der Bremer Kriminalpolizei setzte damit den Erlass des Reichsführers SS Heinrich Himmler um, der am 16. Dezember 1942 angeordnet hatte, sämtliche im deutschen Reichsgebiet lebenden „zigeunerischen Personen“ nach Auschwitz zu deportieren.
Die Namen und Adressen waren der Polizei längst bekannt, denn bereits Jahre zuvor waren sämtliche Sinti und Roma registriert, erkennungsdienstlich erfasst und systematisch drangsaliert worden. Nach einer zweitägigen Bahnfahrt kamen sie im „Zigeunerfamilienlager“ Auschwitz-Birkenau an. „Bis Ende 1943 waren 70 Prozent tot“, berichtet der Kölner Historiker Hans Hesse. „Die Kinder zuerst, dann die Alten, dann die Kranken.“ Sie starben an Hunger und Auszehrung, wurden willkürlich erschossen oder in den Gaskammern umgebracht. Manche der überlebenden Gefangenen wurden in den letzten Kriegstagen in Wehrmachtsuniformen gesteckt, fielen an der Front oder gerieten in Kriegsgefangenschaft, erklärte der Historiker kürzlich bei einem Vortrag im Kulturhaus Walle.
Offizielle Schätzungen gehen davon aus, dass eine halbe Million europäischer Sinti und Roma Opfer des Nationalsozialismus wurden. Den Bruchteil, der das Grauen überlebt hatte, erwarteten kein Verständnis und keine Unterstützung. „Es gab im Nachkriegsdeutschland keine Einrichtung, die ihnen hätte helfen können. Wenn überhaupt, dann gab es nur etwas Geld“, so Hesse – und auch das nur nach jahrzehntelangem Kampf. Erst 1982 erklärte die Bundesregierung die Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma zum Völkermord aus Rassenwahn.
Ralf Lorenzen war Mitarbeiter im Kulturzentrum Schlachthof, als die Bremer Sinti im Jahr 1995 eine Gedenktafel im Eingangsbereich des Schlachthof-Geländes einweihten. „Niemandem von uns war bis dahin dieser Teil der Vergangenheit bewusst“, erinnert sich Lorenzen – für ihn sei er „zum Lebensthema“ geworden. Die Handlung seines Theaterstücks basiert auf historischen Dokumenten, authentischen Interviews mit Zeitzeugen und deren Nachkommen. „Es gibt keine Sinti-Familie, die diese Vergangenheit nicht hat“, sagt Romano Hanstein, Jahrgang 1975. „Wir alle sind mit dieser Geschichte groß geworden. In den Familien wurde viel davon erzählt“, berichtet Violinist Rigo Weiß. Doch öffentlich wagten das die meisten Überlebenden lange nicht: „Sie waren eingeschüchtert und traumatisiert. Wenn du ein Leben lang erzählt bekommst, du bist nichts wert, dann glaubst du es irgendwann selbst“, erklärt Dardo Balke. „Außerdem saßen nach Kriegsende in den Ämtern oft die gleichen Leute wie vorher.“ Bis heute sei die Verfolgung der Sinti und Roma kaum Thema im Geschichtsunterricht, weiß Bassist Maurice Maatz, 25 Jahre. „Ich machte meine Lehrerin darauf aufmerksam und hielt selbst den Vortrag.“
Die jungen Männer tragen deutsche Namen, sprechen Deutsch mit bremischem Akzent und werden bis heute gefragt: „Was für ein Landsmann bist denn du?“, erzählt Rigo Weiß – und sie erklären dann, dass ihre Familien bereits seit Jahrhunderten hier heimisch sind. „Es ist eine andere Zeit, andere Menschen“, sagt der 36-jährige Bremerhavener. „Aber manchmal bekommt man das Gefühl: Es geht schon wieder los.“
Vor wenigen Tagen jährten sich die Ereignisse zum 76. Mal. Und wie seit vielen Jahren luden die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) und der Bremer Sinti-Landesverband zur Gedenkstunde ein. Schülerinnen und Schüler der Oberschule Findorff verlasen im Schlachthof die Namen der Opfer, die Historiker Hesse hatte rekonstruieren können: Darunter die Brauns, Müllers, Peters und Roses aus Walle, die Bambergers, Trollmanns und Winters aus Gröpelingen, die Blums, Steins und Pohls aus Findorff. Fast komplett ausgelöscht wurde auch die Familie Schwarz, die direkt am Schlachthof wohnte. Die Kinder Gisela, Friedrich und Albara hatten die Schule an der Gothaer Straße besucht. Sie alle sollen nicht vergessen sein, sagte Hermann Ernst, Vorsitzender des Sinti-Vereins, denn „es bleibt viel zu tun in einer Zeit, in der der Rassismus wieder aufersteht“.
„Drei Tage im März“ wird am 19. März, 20 Uhr, und 21. März, 11 Uhr, in der Kesselhalle im Kulturzentrum Schlachthof aufgeführt. Eintrittskarten zum Preis von 16 Euro, ermäßigt zehn Euro, gibt es im Kulturzenrum Schlachthof, Findorffstraße 51, Telefon 37 77 50. Schulklassen zahlen vier Euro/Person. Nähere Informationen: Ewald Hanstein/Ralf Lorenzen, „Meine hundert Leben“ (Donat-Verlag, 2005) und die Internetseiten des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma Bremen, www.bremerhavener-sinti-verein.de.
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