
Herr Zaiss, was wissen Sie mehr als Märchen über die Gebrüder Grimm?
Konrad Zaiss: Das müssen wir gleich korrigieren: nicht Gebrüder Grimm, sondern Brüder Grimm! Der Jacob hat sich vehement dagegen gewehrt, wenn jemand „Gebrüder Grimm“ benutzt hat, weil er sagte: Wir sind keine Firma! Der Sohn von Wilhelm hat aber diesen Begriff benutzt, dadurch ist das in die Welt gekommen. Die bekannten Brüder sind Jacob und Wilhelm. Wer weniger bekannt ist, ist der Maler-Bruder Ludwig Emil, obwohl der ziemlich entscheidend dafür war, dass die Märchen überhaupt ein Erfolg wurden. Von der ersten Auflage der Kinder- und Hausmärchen wurden neunhundert gedruckt. Die sind zum Teil eingestampft worden, weil sie nicht verkauft wurden. Erst in der Kurzfassung mit sieben Märchen, zu denen Ludwig Emil die Illustrationen gemacht hat, wurde es eine Erfolgsgeschichte.
Die Brüder Grimm sind bekannt dafür, dass sie Märchen gesammelt haben. Aber haben sie eigentlich auch selbst mal welche geschrieben?
Das ist jetzt die spannende Frage. Das Ganze hat etwas mit Marketing zu tun. Es gab bereits die Märchensammlung von Musäus und die des Weinheimers Albert Grimm, der nicht mit den Brüdern verwandt ist. Wilhelm und Jacob waren der Meinung, sie müssten die Märchen entsprechend rüberbringen. Das galt vor allem für Wilhelm. Jacob sagte: Wir müssen das authentisch machen! Authentisch sind dann auch die Sagen ausgefallen. Die haben sich gar nicht verkauft. Wilhelm war derjenige, der fabuliert hat. Das kann man daran sehen, dass sie eine ganze Menge Märchen, die ihnen erzählt wurden, komplett umgeschrieben haben. Und sie haben in die Welt gesetzt, die Märchen stammen von einfachen Leuten. Tatsächlich waren die Erzähler überwiegend Bürgerliche und Adlige aus Kassel und Umgebung. Dorothea Viehmann, die ihnen die meisten Märchen erzählt hat, wurde in den Illustrationen in der Küche mit Hühnern dargestellt, dabei war sie Schneidermeisterin. Viehmann, die eine geborene Pierson war, also eine Hugenottin, hat die Geschichten in der Wohnung der Grimms erzählt. So haben die Grimms einiges an Legenden gebildet.
Das heißt, viele der Märchen kommen auch aus Frankreich?
Es gibt eine ganze Menge Märchen, die einen französischen Ursprung haben, zum Beispiel „Frau Holle“. Es gibt eine Menge Frau-Holle-Sagen, die sich elementar von der Geschichte unterscheiden. Im Märchen wird Leistung belohnt – das war keine deutsche Arbeitstugend, das war eine hugenottische! Das haben die Grimms von Viehmann übernommen.
Die Märchen der Brüder Grimm machen aber nur einen Teil ihres Vortrags aus.
Ja, denn die Märchen machen nicht mal ein Prozent vom Schaffen der Brüder aus!
Verblüffend. Woraus bestehen die anderen neunundneunzig Prozent?
Die bestehen aus deutscher Mythologie. Und was sie aus dem Hildebrandslied aus dem achten Jahrhundert gemacht haben ist phänomenal! Sie haben es herausgegeben und nicht nur entziffert, sondern auch kommentiert und Zeitbezüge hergestellt. Damit haben sie sich sofort einen Namen in der europäischen Fachwelt verschafft. Dann haben sie zwei Bände deutscher Sagen herausgegeben und drei Bände Märchen einschließlich wissenschaftlichem Kommentar. Jacob und Wilhelm Grimm waren ursprünglich Juristen. Also, sie haben Jura studiert in Marburg, wobei Jacob nicht abgeschlossen hat. Er wurde Bibliotheksassistent und hat die Zeit genutzt, um in der Bibliothek zu forschen. Wilhelm war in der Zeit weiter in Kassel und hat Auftragsarbeiten erledigt.
Die Brüder Grimm gelten außerdem als „Gründungsväter der Germanistik“. Wie kam es dazu?
1846 hat Jacob zum ersten Germanistentag Wissenschaftler in den Frankfurter Römer eingeladen. Er wurde sehr unterstützt durch Wilhelm, der die ganzen Verbindungen hatte. Wilhelm war der Netzwerker, Jacob war mit den Büchern verwurzelt. Den ersten Germanistenkongress haben sie mit Juristen, Historiker und dem, was man heute „Literaturwissenschaftler“ nennen würde, gehalten. Den Begriff gab es damals nicht. 1848 saß Jacob dann mit in der Paulskirche im Parlament. Da war der Demokratiekongress und Jacob hat auch Anträge gestellt, zum Beispiel die Adeligen mit allen Bürgerlichen auf eine Ebene gleichzustellen, obwohl er Monarchist war! Man hat ihn offensichtlich in politischen Kreisen sehr beachtet.
Ist aus dem Germanistenkongress auch das „Deutsche Wörterbuch“ hervorgegangen?
Nein. Damit haben sie 1838 angefangen. Das war eine Auftragsarbeit von einem Leipziger Verleger. 1846 war der erste Band schon raus.
Stimmt es denn, dass die Grimms nur bis zum Buchstaben „D“ gekommen sind?
Bis „F“, ja. Sie haben den Grundstein gelegt, die Systematik hineingebracht und ein unglaubliches Netzwerk aufgebaut mit neunzig Wissenschaftlern, die ihnen zugearbeitet haben! Das ist mehr als ein etymologisches Wörterbuch, weil es ganz viele Belege, Verweise und Querverbindungen in diverse europäische Länder gibt. Das deutsche Wörterbuch zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es keine Tabus gibt! Das Grundprinzip war: alle Wörter, die im Land vorkommen zu nehmen ohne Zensur! Alle Wörter sind gleichwertig. Da sind auch reichlich obszöne und politisch anstößige Wörter dabei. Die Grimms haben die Ausarbeitung nur bis zum Buchstaben „F“ geschafft. „Freiheit“ war das letzte von ihnen vollendete Wort. Der letzte Band ist weit nach ihrem Tod erschienen, 1961.
Herr Zaiss, Sie bezeichnen sich als „Literaturbiograf“. Was verstehen Sie darunter?
Mir liegt immer daran, die Verbindung zwischen Werk und Leben herzustellen. Germanisten nehmen das Werk für sich. Für mich erschließt sich ein Werk erst dann, wenn ich weiß, wie die Leute gelebt haben. Ich habe gerade ein Seminar zu Heinrich Böll in Köln gemacht. Da waren wir mitten im Zentrum, umgeben von zehn Bezugspunkten! Böll nennt es „erkaltetes Material“. Das abzukoppeln finde ich sträflich. Damit wird man weder der Literatur noch den Autoren gerecht.
Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Literatur an Ort und Stelle“ halten sie noch weitere Vorträge über Autoren und ihr „erkaltetes Material“. Welche genau sind das im nächsten Jahr?
Oskar Maria Graf am Starnberger See im Juli 2020, dann Friedrich Engels in Bremen Ende August 2020. Impulse zur Literatur geben ist mein Ziel, aufgrund meiner eigenen Biographie. Ich bin im katholischen Sumpf von Fulda aufgewachsen und Böll hat mich gerettet! Literatur erweitert das Gesichtsfeld, gibt Optionen, wie man Dinge anders sehen kann und trägt dazu bei, Geist und Seele zu bereichern und die Handlungsfähigkeit zu erweitern.
Die Fragen stellte Magali Trautmann.
Dr. Konrad Zaiss,
geb. 1949, Literaturbiograf, ehemaliger Kita-Leiter für Integrationspädagogik und Fachberater der DRK in Bremen, hält am Donnerstag, den 07.11. um 15Uhr den Vortrag „Brüder Grimm – Mehr als nur Märchen“ im Helene Kaisen Nachbarschaftshaus in Gröpelingen. Die Veranstaltung wird gefördert von der AWO im Rahmen der „Universität der 3. Generation“. Um Voranmeldung wird gebeten.
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