
Weidedamm. In der Martin-Luther-Gemeinde ist am Dienstagsnachmittag besonders viel los. In einem Raum trifft sich die Geschichtswerkstatt, aus der Kirche klingt Orgelmusik, die Tische im Wintergarten sind besetzt von Eltern, die sich unterhalten oder alleine mit einem Buch die Zeit vertreiben. Dienstags treffen sich außerdem die Pfadfinder des Stammes „Gräfin Emma von Lesum“. Und im großen Gemeindesaal lässt sich Volker Sieg vermöbeln. Seit vielen Jahren bietet der Diakon mit dem schwarzen Gürtel seine Selbstverteidigungskurse an. Doch so groß wie in diesem Jahr war die Nachfrage noch nie.
Volker Sieg gibt sich in seinem weißen Karateanzug gerne als Zielscheibe her. Die Mädchen stehen Schlange, um ihn mit Anlauf in den Bauch zu boxen und zu treten. „Man muss immer mit dem Außenrist treten. Wenn man mit der Spitze tritt, tut man sich nur selbst weh“, erklärt die achtjährige Jona. Der Diakon im weißen Karateanzug ist gut geschützt durch ein dick gepolstertes Schlagkissen und seine Erfahrung: Seit 36 Jahren betreibt er die Kampfsportart, seit vielen Jahren bietet er in der Gemeinde seine Kurse an. Die Mädchen lernen, mit welchen effektiven Tricks und Kniffen sie sich im Notfall verteidigen können. Zum Beispiel eine Technik, mit der man sich befreien kann, auch wenn man von einer viel größeren Person festgehalten wird. Vor allem seien es aber Lehrstunden in Selbstvertrauen, erklärt der Diakon.
„Ich freu mich immer darauf, weil ich da mit anderen Kindern tolle Sachen machen kann“, strahlt die sechsjährige Linn. Mit gymnastischen Übungen wird die aufrechte Haltung trainiert. In Partner- und Rollenspielen üben die Mädchen, ihrem Gegenüber fest in die Augen zu schauen und selbstbewusst Nein zu sagen. Im Gemeindesaal dürfen sie auch richtig laut werden. „Andere anschreien, das muss man sich ja erst einmal trauen“, sagt der Diakon. Wie Kinder sich verhalten sollen, wenn sie in eine brenzlige Lage geraten, hat die Bremer Polizei im Rahmen ihres Präventionsprojektes „Kinder stark machen“ zusammengefasst. Die Liste an Verhaltensregeln bekommen alle Eltern, deren Kinder an den Kursen teilnehmen.
„Gehe niemals mit einem Fremden“, lautet Regel Nummer Eins. Doch im richtigen Leben kann man so etwas schon einmal vergessen, erzählen Jona und Tomma: Vor einiger Zeit, als sie in der Nähe des Tierheims Anschluss an ihre Gruppe und den Weg verloren hatten. „Da kam so ein Mann, der sagte: Ich zeige euch, wo ihr hinmüsst.“ Tatsächlich hatte der freundliche Herr nur Gutes im Sinn und begleitete die kleinen Irrläuferinnen zum Rest der Gruppe. „Aber das weiß man ja vorher nicht“, sagt die achtjährige Tomma. „Und unsere Eltern waren sehr sauer auf uns und haben gesagt: Das dürft Ihr nicht wieder machen!“
Angst habe auch sie auf der Straße eigentlich nicht, erzählt Ida, ebenfalls acht Jahre. „Aber einmal, da waren da so doofe Jungs, die mich geärgert haben.“ Damals habe sie nicht so richtig gewusst, was sie machen soll. Wenn das heute vorkäme, erzählt sie, „würde ich laut rufen: Lasst mich in Ruhe!“ In den vergangenen 15 Jahren hatten sich regelmäßig zwanzig bis dreißig Mädchen für das Selbstverteidigungsprojekt angemeldet, erzählt Volker Sieg. Für den laufenden Kurs gab es 70 Anmeldungen. 15 Mädchen mussten auf den Folgekurs vertröstet werden, der nach den Sommerferien beginnt. Von der hohen Nachfrage war der Diakon selbst überrascht. „Das liegt daran, dass in den vergangenen Jahren in den Medien so viel über Straßenkriminalität berichtet wurde. Dass die Teilnahme am Selbstverteidigungskurs die Ängste der Kinder eher verstärken könnte, glaubt Simon Plath jedoch nicht. „Es ist gut, wenn die Kinder lernen, wie sie sich wehren können“, sagt der Vater der sechsjährigen Linn. „Aber vor allem ist es für sie hier Spiel und Spaß.“ Auch die elfjährige Natalie sagt: „Ich hab keine Angst. Aber ich wollte wissen, was ich machen muss, wenn ich angegriffen oder festgehalten werde.“
Die Selbstverteidigungskurse sind nur eines von vielen Angeboten, die die Gemeinde den Kindern macht, und die im Stadtteil sehr gerne angenommen werden. „Früher kamen 25 bis 30 Kinder pro Woche, zurzeit sind es rund 130 Kinder im Alter zwischen 6 und 12 Jahren. Die Musik- und Chorgruppen nicht eingerechnet“, berichtet Diakon Sieg. Viele davon besuchen die Kindertagesstätte der Martin-Luther-Gemeinde, und damit entstünden auch enge Kontakte zu ihren Eltern. Bei den Anmeldungen werde nicht auf Konfession, Religion geschaut. „Wir sind ein Ort, in dem Kinder aus unserem Stadtteil zusammenkommen. Das ist das Wichtigste“, sagt Sieg.
Nach den Sommerferien, Anfang September, beginnt das neue Selbstverteidigungsprojekt. Es wird das Letzte sein, das der Diakon vor seinem Ruhestand Ende des Jahres anbietet. Noch sei nicht klar, ob sich die Gemeinde eine hauptamtliche Weiterführung des Angebotes für Kinder leisten mag, berichtet der 64-Jährige. „Aber ich hoffe natürlich, dass es hier genauso gut weitergeht.“
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