Zum 75. Geburtstag nutzen wir die Gelegenheit, die Seiten zu tauschen: Diejenigen, die wir normalerweise interviewen, dürfen nun uns die Fragen stellen.
Cornelia Holsten: Haben Sie schon mal darauf verzichtet, einen Artikel zu schreiben, um keine Hasskommentare zu produzieren?
Lorena Faltermann: Nein. Autoren müssen frei sein, Themen aufzugreifen, die sie als relevant erachten. Aber wir treffen jeden Tag Entscheidungen, welche Inhalte wir in den sozialen Medien platzieren. Und wägen das Potenzial ab, ob sachliche Diskussionen entstehen können. Um diesen Mehrwert geht es in den sozialen Medien, die Leser sollen mitreden – themenbezogen und konstruktiv. Wenn wir Inhalte teilen, die erfahrungsgemäß viele Hasskommentare nach sich ziehen, brauchen wir die Kapazitäten, das aufzufangen. Die sozialen Foren sind 24 Stunden geöffnet und wir verantwortlich dafür, was auf unseren Seiten steht, das ist nicht immer einfach.
Holsten: Wie gehen Sie mit dem Dilemma um?

Faltermann: Wir haben Instrumente, auf die wir zurückgreifen können. Kommentare werden auf unserer Homepage beispielsweise erst nach Prüfung freigeschaltet. Wir können auch die Kommentarfunktion schließen, wenn wir keinen Mehrwert erwarten, etwa bei Unfallmeldungen. Es ist im Übrigen ein weitverbreiteter Irrglaube, Mediennutzer hätten ein Anrecht darauf, ihre Meinung auf unserer Webpräsenz zu verbreiten. Die Möglichkeit, Artikel zu kommentieren, ist ein freiwilliges Angebot. In den sozialen Medien bleibt im Zweifel nur, den Artikel wieder komplett runterzunehmen und das ist im Zuge der Transparenz nicht in unserem Sinne.
Holsten: Ich glaube, zu löschen ist ein wichtiges Instrument, darf aber nicht alleine stehen. Hasskommentare haben enorm zugenommen. Dabei gab es Hass immer schon, jetzt wird er nur sichtbarer. Es wird nicht mehr versteckt hinter dem Gartenzaun geredet, sondern öffentlich in die Kommentarspalte geschrieben. Man muss dagegen angehen, auch wenn es Mühe macht. Damit wir nicht signalisieren, dass wir es tolerieren.
Faltermann: Ich erlebe es häufig, dass Gegenrede starke regulierende Wirkung hat, vor allem wenn sie von den Mitdiskutanten kommt. Die Diskussion wird sachlicher, respektvoller. Deshalb ist es für Redaktionen so wichtig, eine funktionierende Community zu haben. Gegenrede braucht aber Mut. Leute, die gegen Hass angehen, werden selbst zur Zielscheibe dieses Hasses.
Holsten: Hasskommentare sind ein Vergehen wie jedes andere auch. Manchmal denke ich, es ist überhaupt kein Unrechtsbewusstsein da bei den Leuten, die das schreiben. Jeder kann durch das Netz sein Smartphone als sehr scharfe Waffe einsetzen. Als wäre es ein Springerstiefel, mit dem man zutritt.
Faltermann: Gibt es einen bestimmten Typ Mensch, der vielleicht dazu neigt, derartige Hasskommentare zu schreiben?

Holsten: Aus unserer Erfahrung wissen wir, es sind viele ältere Menschen, darunter offenbar viele Männer und Menschen, die die emotionale Distanz des Netzes nutzen. Normalerweise sage ich etwas und erhalte sofort eine Reaktion. Online ist das anders. Wenn die Digitalkompetenz fehlt, kann es manchmal dazu führen, dass Menschen das nicht überblicken. Und dann gibt es natürlich die, die das einschätzen können und trotzdem Hass verbreiten. Wenn sie das unter Pseudonym tun, erschwert das zusätzlich die Strafverfolgung.
Faltermann: Wenn uns jemand in der realen Welt auf der Straße schlagen würde, das würden wir anzeigen. Die Hürde ist viel kleiner, weil es gelerntes Verhalten ist. Im Digitalen müssen wir das als Gesellschaft noch verinnerlichen. Hasskommentare sind nichts anderes, als verbal geschlagen zu werden.
Holsten: Das sehe ich genauso. Man muss sich als Gesellschaft darauf besinnen, gegen Hasskommentare Haltung zu zeigen und sie nicht zu negieren. Jeder, der einen Hasskommentar liest, der fühlt sich erst mal allein. Deshalb ist Austausch so wichtig – zwischen den Medienschaffenden und mit den Behörden.
Faltermann: Ja, es ist ein beklemmendes Gefühl.
Holsten: Ich war eine Zeit lang Strafrichterin. Wenn man nur Leuten begegnet, denen vorgeworfen wird, ein Verbrechen begangen zu haben, dann steigert es nicht das Vertrauen in Menschen. Ich glaube, hier ist es ähnlich. Hasskommentare zu lesen, macht was mit den Menschen.
Faltermann: Das merke ich auch an meinem Team. Wenn viel Hass kommt, geht die Stimmung runter. Die Kollegen reden miteinander, sie sind darauf geschult. Schwierig bleibt es aber.
Holsten: Es wäre so wichtig, wenn viel mehr Menschen viel öfter einatmen, ausatmen und darüber nachdenken, was sie da gerade online tun.
Das Gespräch führte Cornelia Holsten.
Cornelia Holsten (50)
ist Juristin und Direktorin der Bremischen Landesmedienanstalt (Brema). Sie beschäftigt sich beruflich regelmäßig mit Hass im Netz, hat unsere anderem die Initiative „Resignation ist keine Option“ (RIKO) mitgegründet.
Lorena Faltermann (39)
ist Teamleiterin der Online-Redaktion des WESER-KURIER. Der Umgang mit Hasskommentaren ist Teil ihrer täglichen Arbeit und eine Herausforderung für sie und ihr Team.
Weitere Informationen
Dieser Artikel ist Teil der Sonderveröffentlichung zum 75. Geburtstag des WESER-KURIER. Am 19. September 1945 erschien die erste Ausgabe unserer Zeitung. Anlässlich des Jubiläums blicken wir zurück auf die vergangenen Jahrzehnte: Erinnern uns an die Anfänge unserer Zeitung und auch an die ein oder andere Panne. Und wir schauen nach vorn: Wie werden Künstliche Intelligenz und der Einsatz von Algorithmen den Journalismus verändern? Natürlich denken wir auch an Sie, unsere Leser und Nutzer. Wer folgt unseren Social-Media-Kanälen, wer liest unsere Zeitung? Was ist aus den Menschen geworden, über die wir in den vergangenen Jahren berichtet haben? Und wie läuft er eigentlich ab, so ein Tag beim WESER-KURIER?
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