Interview mit Therapeutin Andrea vorm Walde: „Sich auf Neues einzulassen, kann echt viel Spaß machen“

Im Interview erklärt die Heilpraktikerin für Psychotherapie, wie man sich als Familie trotz Ausnahmezustand in den Ferien erholen kann.
26.07.2020, 05:00 Uhr
Lesedauer: 5 Min
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Andrea vorm Walde: „Sich auf Neues einzulassen, kann echt viel Spaß machen“
Von Frieda Ahrens

Frau vorm Walde, dieses Jahr ist alles anders: Durch Kurzarbeit ist das Geld knapp, Urlaubstage mussten womöglich schon genommen werden, in der Corona-Zeit sind große Reisen nicht die beste Idee. Ist Urlaub da überhaupt ein Thema?

Andrea vorm Walde: Urlaub ist viel mehr ein Thema als in den letzten Jahren, weil alle darüber nachdenken. Die Frage ist: Muss man im Urlaub unbedingt wegfahren? In meiner Kindheit war es total gesetzt, dass wir wegfahren. Das ist, glaube ich, bei vielen immer noch so. Aber ich weiß, dass viele Kinder Zeit für sich zu Hause auch total super finden.

Aber hatten Kinder nicht schon wegen Corona ganz viel freie Zeit zu Hause?

Glaube ich eigentlich nicht. Es mag in Familien unterschiedlich gewesen sein, aber der Druck war total hoch. Diese Situation, Homeoffice gekoppelt mit Homeschooling, ist eine Katastrophe. Die wenigsten Kinder hatten zu viel Freizeit. Ich glaube fast, dass die meisten mehr machen mussten. Deswegen ist es jetzt in den Ferien wichtig zu sagen: Das war der letzte Schultag, jetzt sind Ferien. Und Ferien heißt: frei haben.

Vom Homeschooling schnell wieder in die Ferien daheim. Wie schafft man es, im gleichen Raum trotzdem diese Grenze zu ziehen?

Es gehört Disziplin dazu, sich Freizeit zu schaffen. Gerade jetzt in Zeiten des Homeoffice steht man immer wieder vor der Herausforderung, sich selbst einen Feierabend zu setzen. Und in Familien müssen das die Eltern für die Kinder machen. Es ist bei aller Freiheit, die die Kinder haben sollten, trotzdem die Aufgabe der Eltern, eine Struktur zu schaffen. Eine Struktur ist auch in der Freizeit total wichtig.

Haben Sie konkrete Tipps?

Ein kleiner Workshop zum Beispiel. Dort schreibt jeder auf: Was wünsche ich mir von meinen Ferien? Und was nimmt mir das Feriengefühl? Dabei kriegt man auch klar, dass die Wünsche unterschiedlich sind. Ich kenne Familien, wo sich alles um die Kinder dreht und die Bedürfnisse der Eltern zurückgestellt werden. Schön finde ich, wenn Eltern es schaffen, sich ein wenig zurück in ein Kindheitsdenken zu versetzten: Was fand man selbst als Kind cool? Das kann so banal sein wie: Man isst nicht am Tisch, sondern macht ein Picknick. Oder ein kleiner Kinoabend zu Hause. Die Kinder dürfen sich Filme aussuchen, es gibt Popcorn. Die Ansprüche sind gar nicht so hoch. Ein Vorteil dieses Jahr: Großer Urlaub ist für keinen drin. Es werden furchtbar viele Leute daheim bleiben. Und damit gewinnt der mit der besten Fantasie.

Wie erklärt man denn Kindern, dass dieses Jahr keine Zeit oder kein Geld da ist, um wegzufahren?

Man sollte Kindern gegenüber ohnehin offen sein. Dass alles anders ist, haben die eh gemerkt. Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat gerade eine Studie zum Leiden der Kinder in der Corona-Zeit gemacht. Die Ergebnisse waren verheerend. Kinder haben Symptome wie Kopfschmerzen, Bauschmerzen, Schlaflosigkeit. Dahinter steckt viel Angst. Und Angst hat oft damit zu tun, dass man nicht weiß, was eigentlich los ist. Das heißt: Je besser Eltern auf Kinder zugehen und sie ins Boot holen, desto weniger Angst ist vorhanden. Ich glaube schon, dass man Kindern erklären kann, dass in diesem Jahr mal kein Geld da ist.

Und wie kann man sich als Elternteil am besten in der freien Zeit erholen?

Am besten hat man die Wünsche aller Familienmitglieder in der Zeit irgendwo hängen, sodass das visuell zu sehen ist. Jeder muss Zeit für sich haben dürfen. Bei sehr kleinen Kindern muss der Partner vielleicht mal einspringen, die älteren Kinder dürfen dann ein wenig länger Computer spielen. Ausnahmen sind in den Ferien sowieso wichtig und tragen zu einem guten Gefühl bei. Dazu gehört, abends länger aufbleiben zu dürfen. Als Elternteil muss man einfach mal Fünfe gerade sein lassen, ein wenig relaxter werden.

Aber ist es nicht ein wenig einfach zu sagen: Wir erholen uns jetzt. Was ist denn Erholung?

Natürlich ist das eine totale Herausforderung. Aber gestresst rennt man ja immer weiter in eine schlechte Verfassung. Wenn man wirklich realistisch ist und sich selbst hinterfragt: Was macht es für einen Unterschied, ob ich die zwei Wochen immer noch totalen Druck aufbaue oder endlich durchatme? Der Effekt wird ja sein, dass ich danach viel mehr Energie habe. Und was ich meinen Kindern vorlebe, werden die in irgendeiner Form annehmen. Wenn ich immer gestresst bin, dann kann ich mich doch nicht wundern, dass mein Kind eine Schlafstörung hat.

Und wenn das alles nichts hilft: Es sind Ferien, die Stimmung ist gekippt. Was jetzt?

Offen darüber sprechen: Was ist hier eigentlich der Knackpunkt? Das wäre aber erst der zweite Schritt, der erste Schritt ist meiner Meinung nach immer, Abstand zu nehmen. Es tut immer gut, dass sich alle mal kurz für eine Stunde zurückziehen und beruhigen. Und dann redet man darüber: Was läuft hier eigentlich gerade wirklich schief? Immer altersgemäß natürlich. Es wird ziemlich wenig mit Kindern geredet. Die werden in manchen Dingen total überhöht, aber oft auch nicht ernst genommen. Es kreist immer alles um sie, aber man fragt nicht: Was ist eigentlich los bei dir?

Jede Familie tickt anders. Gibt es trotzdem universale Tipps, die immer helfen?

Universelle Tipps sind immer so eine Sache, weil jeder Mensch verschieden mit Situationen umgeht. Und da jede Familie sich aus mehreren ganz individuellen Menschen zusammensetzt, wird es noch mal spezieller. Aber ich mache immer wieder die Erfahrung, dass es sich auf alle auswirkt, wenn Eltern mit Dingen etwas gelassener umgehen. Die gelassensten Eltern haben die entspanntesten Kinder. Sagt sich so einfach – das ist natürlich Übungssache. Aber mein Tipp ist auf jeden Fall: Den Kindern zuhören und sie ernst nehmen. Mir fällt oft auch, wie wenig mit Kindern sinnvoll gesprochen wird. Dabei kann man mit Kommunikation so viel lösen.

Wo ist für Sie die Grenze, wann ist es zu viel Information für die Kinder?

Die gibt es ganz klar. Ich muss einfach zusehen, dass ich Sachen kindgerecht erkläre. Ich finde nicht, dass man einem Kind zum Beispiel Todeszahlen zumuten sollte. Und natürlich dürfen Kinder bestimmte Sachen nicht sehen. Vor Kurzem habe ich eine Doku geschaut, die einen Covid-19-Patienten begleitet hat. Für mich ist das gut, diese Schwere zu sehen, das lässt mich aufmerksamer werden. Aber damit ist ein Kind, und meiner Meinung nach auch noch ein Teenager, überfrachtet. Das Kind sollte nicht die komplette Sorge der Eltern mittragen. Es darf natürlich wissen: Pass auf, es ist gerade alles etwas anders und bestimmte Dinge gehen nicht. Aber wenn ich wirklich richtig Angst habe, darf ein Kind das nicht merken. Ich kann ein Kind immer gut abholen, wenn ich selbst schon näher an einer Lösung bin. Aber so etwas wie Verzweiflung darf bei dem Kind nicht ankommen.

An wen kann man sich dann gut wenden?

Freunde sind gute Ansprechpartner, in Grenzen. Es tut gut, dass man sein Herz ausschüttet – da ist jemand, der einen mag und versteht. Auf der anderen Seite haben die auch nicht immer den besten Rat. Was meiner Meinung nach hilft, ist der Austausch mit Menschen, denen es genauso geht. Nicht ohne Grund haben Selbsthilfegruppen solch einen Erfolg. Geht es einem wirklich schlecht und ist man überfordert, muss man sich professionelle Hilfe suchen.

Die Flucht vor dem Alltag ist ein gern verwendetes Argument von Urlaubern. Ist das eigentlich etwas Gutes?

Ich finde das positiv. Es ist doch total schön, dass wir uns im Jahr auch mal auf andere Zeiten einstellen können. Das ist an Weihnachten ähnlich. Ferien haben einen derartigen Zauber. Ich finde es viel gefährlicher, dass man jetzt meint, weil man zu Hause bleibt, laufe der Alltag weiter. Damit machen wir uns alles kaputt. Es hilft oft, die Kinderposition im Kopf einzunehmen. Das befreit. Natürlich sind das für uns Erwachsene nicht immer die besten Ideen: Frühstück im Bett zum Beispiel findet man als Kind total genial. Meine Mutter hat es aber gehasst: Das Bett voll Marmelade, überall Krümmel, man kann nicht richtig essen – das ist eigentlich gar nicht genial. Aber sich wirklich auf so etwas einzulassen, kann eben doch viel Spaß machen.

Das Interview führte Frieda Ahrens.

Info

Zur Person

Andrea vorm Walde (50)

ist Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie arbeitet als Coachin und Therapeutin. Ihre psychotherapeutische Ausbildung hat sie in Bremen gemacht, nun lebt sie in Hamburg.

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