Es ist kurz nach sieben Uhr am frühen Mittwochmorgen des 30. Mai. Um diese Zeit ist es noch ganz ruhig am Mahndorfer See, perfekt, um mit ein paar Runden im See in den Tag zu starten. Das Wasser ist noch kalt, obwohl der Sommer selbst für Bremer Verhältnisse in diesem Jahr schon früh in die Gänge gekommen ist. Auch an diesem Morgen wagen sie gleich mehrere Schwimmer in den kühlen See – und machen eine grausige Entdeckung. Um 7.20 Uhr bemerken sie eine ältere Frau, die leblos im Wasser treibt. Sie ziehen die 82-Jährige an Land und versuchen vergeblich, sie wiederzubeleben, wie die Polizei später mitteilt. Die Frau ist in dem 13 Meter tiefen Baggersee ertrunken.
Die 82-jährige Frau ist die erste von sechs Badetoten in diesem Jahr in Bremer Gewässern und Schwimmbädern. Vier Kinder und Jugendliche sind unter den Opfern: Am 21. Mai, Pfingstmontag, ertrinkt ein achtjähriger Junge im Vegesacker Schwimmbad. Am 19. Juli werden die Rettungskräfte zum Blumenthaler Freibad gerufen, jede Hilfe kommt zu spät, ein fünfjähriger Junge ist im Nichtschwimmerbecken ertrunken. Nur elf Tage später ereignet sich der nächste tödliche Badeunfall: Zwei 15 und 16 Jahre alte Mädchen wollen im Sodenmattsee in Huchting eine Badeinsel erreichen, beide können nicht schwimmen und gehen unter. Die Mädchen können reanimiert werden, die 15-Jährige stirbt jedoch zwei Tage später im Krankenhaus.
„Taucher haben die Mädchen mehrere Meter unter der Wasseroberfläche gefunden“, berichtet Jonas Boelsen, Notarzt bei der DRF Luftrettung, dem WESER-KURIER später. „Das sind auch für uns keine normalen Einsätze. Gerade weil sehr häufig Kinder und junge Menschen betroffen sind. Das ist emotional und psychisch belastend, allen Beteiligten geht es so.“ In Bremen sind zwei Rettungshubschrauber stationiert: „Christoph Weser“ der DRF Luftrettung und „Christoph 6“ des ADAC. Bei Badeunfällen werden die Luftretter zusätzlich alarmiert – weil sie in der Regel am schnellsten vor Ort sein können und weil der Hubschrauber bei der Suche von Vermissten in Gewässern besonders effektiv ist.
Am 2. August ereignet sich am Weserstrand beim Café Sand vor den Augen vieler Badegäste und Passanten eine Tragödie: Ein vierjähriger Junge wird vermisst. Die Suche nach dem Kind löst einen Großeinsatz von Rettungskräften inklusive Hubschrauber und Krisen-Interventionsteam aus. Taucher der Feuerwehr finden den Vierjährigen in der Weser. Die Wiederbelebung bleibt erfolglos, der Junge ist tot. Fünf Tage später werden die Rettungskräfte zum Werdersee gerufen: Ein 26-jähriger Mann wird aus dem Wasser gezogen. Auch er kann nicht mehr reanimiert werden, der Mann stirbt noch am Unfallort. Die Polizei weist nach dieser Tragödie ausdrücklich auf das Verhalten von Badegästen und Passanten vor Ort hin: Sie hätten sich an der Suche nach dem Vermissten beteiligt und eine Rettungskette gebildet. Und: Nachdem der 26-Jährige geborgen worden sei, hätten alle Badegäste auf Bitte des Einsatzleiters umgehend das Gebiet verlassen. „Da hatten wir schon ganz andere Fälle“, sagt ein Polizeisprecher.
Die sechs tödlichen Badeunfälle sind die tragische Kehrseite eines besonders langen und heißen Ausnahmesommers. Sie lösen eine politische Debatte aus, in deren Zentrum die Schwimmfähigkeit von Kindern steht. Die Antwort darauf liefert eine Senatsvorlage, die Bilanz fällt erschreckend aus: Gut die Hälfte der Grundschüler in Bremen kann nicht sicher schwimmen. Besonders dramatisch sieht es im Einzugsgebiet des Westbades aus, wo 81 Prozent der Drittklässler keine Schwimmerfahrung haben. Viel besser sieht es aber auch in anderen Stadtteilen nicht aus: Zu Beginn des Schuljahres 2017/2018 registriert die Bildungsbehörde, dass 64 Prozent der Schüler nach der zweiten Klasse im Freizeitbad Vegesack nicht schwimmen könnten. Ähnliche Zahlen gibt es für das Hallenbad Huchting (55 Prozent), das OTe-Bad in Tenever (53 Prozent) oder für das Schlossparkbad in Sebaldsbrück (50 Prozent).
Martin Reincke ist Präsident des Bremer Landesverbands der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG), die Entwicklung kann er bestätigen. Mehr als 300 Hilfeleistungen habe die DLRG in diesem Sommer an Bremer Gewässern geleistet. Eine Erkenntnis daraus: „Das Verständnis und die Befähigung zum Schwimmen haben sich sehr stark verändert. Viele überschätzen sich und kennen die Gegebenheiten in Badeseen nicht“, betont Reincke. „Ein großes Problem: Manche Menschen sehen überhaupt nicht die Notwendigkeit, eine klassische Schwimmausbildung zu machen – weil sie denken, sie können schwimmen, kommen aber mit der Realität an den Badeseen oder an der Weser nicht zurecht. Fließende Gewässer, Badeseen, deren Grund steil abfällt und unterschiedliche Temperaturen in Gewässern gehören dazu.“
„Wie man sich im Wasser bewegt und wie ein Schwimmbad funktioniert“
Inzwischen gebe es ganze Bevölkerungsgruppen und Stadtteile, die mit den vorhandenen Angeboten zur Schwimmausbildung nicht mehr erreicht würden. Als Konsequenz aus dieser Entwicklung habe die DLRG gemeinsam mit dem Landessportbund und dem Landesschwimmverband in Huchting etwa ein Projekt für Zweitklässler gestartet. „Dabei handelt es sich nicht schon um den klassischen Schwimmkurs, sondern zunächst um eine grundsätzliche Wassergewöhnung. Es geht darum, wie man sich im Wasser bewegt und wie ein Schwimmbad funktioniert“, beschreibt der DLRG-Präsident den Projektansatz. Ziel sei, dass die Kinder beim anschließenden Schulschwimmen auch schnell mitmachen und das Schwimmen lernen könnten.
Die Bildungsdeputation hat Ende November ein ganzes Maßnahmenpaket beschlossen, um die Situation zu verbessern. Zentraler Punkt: Das Schulschwimmen soll gegen Ende des Schuljahres 2020/21 von der dritten in die zweite Klasse vorgezogen werden. Außerdem soll die Schwimmzeit von derzeit 30 Minuten auf eine Dreiviertelstunde ausgeweitet werden.
Den Vorstoß bezeichnet Reincke als positiv: Ursprünglich sei das Schulschwimmen allerdings als Teil des Sportunterrichts gedacht gewesen – wo die Schüler etwa Rückenschwimmen oder auch Kraulen lernten. „Das findet heute aber größtenteils nicht mehr statt, da viele Kinder bis dahin überhaupt nicht schwimmen können. In den meisten Klassen handelt es sich daher um einen reinen Unterricht zum Schwimmenlernen“, betont der DLRG-Präsident. „Was wir eigentlich wollen: Dass Kinder bereits im Vorschulalter schwimmen könnten.“ Mit der Wassergewöhnung könne bereits früh begonnen werden, etwa mit dem Babyschwimmen, empfehlen die Experten. Die eigentliche Schwimmausbildung könne mit fünf oder sechs Jahren beginnen. Entsprechende Kurse würden in Bremen von den Bremer Bädern, der DLRG oder von den Bremer Schwimmvereinen angeboten.
Kinder immer im Blick
Der Bremer DLRG-Präsident Martin Reincke sagt ganz klar: „Eltern, Angehörige und andere Begleitpersonen sind in der Verantwortung, sie müssen Kinder am Wasser immer, jede Sekunde, im Blick behalten und bei ihnen sein.“ Für Nichtschwimmer gelte als simpelste Regel: Maximal bis zum Bauchnabel sollten sie ins Wasser gehen. Ertrinken passiere meistens still und leise – auch bei Erwachsenen. Das Seepferdchen sei kein Abzeichen für sicheres Schwimmen, es solle eher zur Motivation dienen. Auch Schwimmflügel seien keine Garantie, dass nichts passieren könne, warnt Reincke. Als sicherer Schwimmer könne nur gelten, wer die Anforderungen des Jugendschwimmabzeichens in Bronze sicher beherrsche. Dafür müssen Kinder innerhalb von 15 Minuten mindestens 200 Meter schwimmen. Eine Garantie sei es aber auch nicht, wenn Übermut, Selbstüberschätzung und etwa Alkohol hinzukämen.
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