Die Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie sind für viele Heimbewohner und ihre Angehörigen eine große Belastung. Erste Lockerungen der strengen Besuchsregeln in den rund 100 Bremer Pflegeheimen, vor allem die Ausweitung der Besuchszeit von 45 Minuten pro Woche auf zwei Stunden am Tag, haben noch nicht die ersehnte Wirkung gehabt. Denn offenbar sind die Heime gar nicht in der Lage, einen erhöhten Besucherandrang unter den gebotenen Hygieneregeln zu bewältigen.
„Die Leute sind hoffnungsfroh“, sagt eine WESER-KURIER-Leserin, „und in der Praxis sieht es dann ganz anders aus.“ Dass ihr Name veröffentlicht wird, möchte sie nicht. „Ich habe Angst vor Nachteilen.“ Heike Einwächter-Langer aus Grohn hat damit keine Probleme. Ihre Mutter lebt in einem privat geführten Heim, gleich um die Ecke. „Die Heime haben ihre liebe Not mit den Besuchsterminen“, sagt sie. „Die Beschäftigten können einem wirklich leidtun. Zwei Stunden, das lässt sich nicht umsetzen.“ In den eigens aufgestellten Pavillon könnten immer nur zwei Personen zugleich.
Zum Geburtstag ihrer Mutter war ihr Sohn aus Hamburg gekommen. „Auf die Toilette im Haus durfte er aber nicht. Ins Heim sollen nur Leute gehen, deren Angehörige bettlägerig sind. Aber viele Zimmer sind doppelt belegt ...“, sagt Heike Einwächter-Langer. „Das Ganze ist sinnbefreit, jedenfalls nicht so, wie man sich das vorstellt.“ Bis sie ihre Mutter wiedersieht, muss eine Woche verstreichen, häufiger darf die Besuchsperson nicht wechseln. „Und selbst das ist schon ein Fortschritt.“ Recht zu haben, ist das eine, darauf zu pochen, etwas anderes. „Ich gehe nicht jeden Tag hin, um das Heim nicht zu überfordern.“
„Die Leute sind vereinsamt“
Im Zweifelsfall steht die Hausordnung über der Corona-Verordnung des Landes, „aus Angst vor einem Infektionsfall“, weiß Anne-Kathrin Nethe. Die Ärztin mit einer Praxis in Schwachhausen hat „viele berufsbedingte Kontakte in Altenheime“, und ihre Mutter lebt auch in einem. „Sie glauben gar nicht, was ich für traurige Geschichten höre, die Leute sind so vereinsamt und deprimiert“, sagt sie. „Aber man darf nicht die Heime bashen, die setzen die Regeln mit Vorsicht um, stehen aber wahnsinnig unter Druck und haben Angst vor rechtlichen Konsequenzen, wenn was passiert.“
Die Regeln, das sind die städtische Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Coronavirus. Sie schreibt die Rechte der Beteiligten fest, und die Hygienevorschriften, die das Gesundheitsamt den Heimen auferlegt. „Die Angehörigen drängen in die Heime und wollen Nähe“, beschreibt Petra Sklorz die Situation nach der politisch beschlossenen Lockerung. „Wir sind aber weiter für den Infektionsschutz verantwortlich, wir sollen über das Risiko für Hunderte Bewohner entscheiden, das wird auf die Heime abgewälzt. Kitas, Schulen oder Tönnies, die machen den Betrieb zu, wir müssen rund um die Uhr versorgen“, sagt die Geschäftsführerin des Bereichs Pflege bei der Arbeiterwohlfahrt (Awo).
Dass es zwischen der Verordnung und amtlichen Vorgaben „Diskrepanzen“ gibt, räumt auch das Sozialressort ein. „Wir versuchen, das zu harmonisieren“, sagt Behördensprecher Bernd Schneider. Senatorin Anja Stahmann (Grüne) hat unterdessen ein Merkblatt herausgebracht, in dem sie „an die Vernunft“ appelliert: „Sie können Ihre Lieben jetzt wieder täglich sehen, aber bitte bleiben Sie umsichtig und stimmen sich gut ab mit dem Pflegeheim. Die neuen Regeln müssen auch dort erst umgesetzt werden. Die Zeiten sind eine große Herausforderung.“
Die Heime beklagen eine enorme Mehrbelastung durch Empfang, Information, Einweisung und Dokumentation der Besucher – nach denen beispielsweise alle Kontaktflächen zu desinfizieren sind. „Allein das nimmt pro Besucher 20 bis 30 Minuten in Anspruch“, sagt Petra Sklorz. Die Sozialbehörde sieht die Sache anders: Manches ließe sich vereinfachen und müsse nicht jedes Mal wiederholt werden. „Uns erreichen immer noch Berichte, nach denen die Einrichtungen die Regeln sehr eng auslegen.“ So komme es „immer noch“ vor, dass Beschäftigte die Besucher während ihres gesamten Aufenthaltes begleiteten, was so nicht vorgesehen sei. Nicht selten würden Besuchszeiten über das in der Verordnung vorgesehene Maß eingeschränkt.
„Das geht alles viel zu schnell“
„Ich habe den Eindruck, das geht alles viel zu schnell, als Träger brauchen wir eine sukzessive Öffnung“, sagt Martina kleine Bornhorst, die Caritas-Geschäftsführerin, und wundert sich über eine neue Ansage des Gesundheitsamtes. Darin wird zwar der Abstand von 1,5 Metern gefordert, der auch das Rollstuhlschieben ausschließt. Auf dem Heimgelände sind davon aber neuerdings Ehe- und Lebenspartner, Kinder, Enkel, Geschwister sowie „Nichten und Neffen in direktem Verwandtschaftsgrad“ ausgenommen. Martina kleine Bornhorst kann dem nicht folgen: Sie kenne „keine medizinische Grundlage, die den Verwandtschaftsgrad als Infektionsschutz beschreibt“.
Anne-Kathrin Nethe stellt die Sinnfrage: „Man beschützt die Leute vor dieser Erkrankung, aber was wollen eigentlich die Leute?“ Ähnlich sieht es die Geschäftsführerin der Awo, Petra Sklorz: „Infektionsschutz oder Persönlichkeitsrechte? Was ist höher zu bewerten?“ Diese Diskussion müsse intensiver öffentlich geführt werden. „Wir müssen gemeinsam die Verantwortung tragen, Politik, Gesundheitsbehörde, Wohn- und Betreuungsaufsicht und die Träger.“